Berlinale, erster Tag – I am very important

Alzheimerpatienten denken meistens, sie wären um die 30 Jahre alt. Daher wundern sie sich fortwährend darüber, wie sie von ihrer Umwelt behandelt werden, und erschrecken vor ihrem eigenen Spiegelbild. Ich selber fühle mich kein Stück anders als ein 21-jähriger, der sich planlos an Filmhochschulen bewirbt, erschrecke immer öfter auch vor meinem eigenen Spiegelbild, bin aber, wie ich aus dem Verhalten meiner Umwelt erschließen kann, keine 21 mehr, sondern VIP, zumindest heute, denn ich sitze in der Sponsoren-Lounge der Berlinale-Eröffnung und unterhalte mich mit meinem geschätzten ehemaligen Regieprofessor von der Filmhochschule, der heute einen rosafarbenen Plüschhasen als Hut auf dem Kopfe trägt und ebenfalls VIP ist. VIP steht für „very important person“ und ist die todsichere Methode, eine Party zu killen, denn es zerstört die Illusion der aufgehobenen Unterschiede, von denen jede gute Party lebt, denn die einen sind draußen und fühlen sich doof, weil sie nicht very important sind, die anderen sind drin und bilden sich ein, sie hätten das verdientermaßen verdient, oder haben ein schlechtes Gewissen, weil andere draußen sind. Ist nicht Europa eigentlich ein einziger großer VIP-Bereich? Welch naheliegender Gedanke! Sagt aber so niemand, obwohl auf der Bühne wirklich jeder was zur Flüchtlingsthematik sagt. Es würde sich auch einfach zu doof anfühlen, ein Filmfestival zu feiern, ohne den brennenden Problemen der Tagespolitik wenigstens kurz zuzunicken.  Dann wird der Eröffnungsfilm gezeigt, „Hail Caesar“ von den Coen Brüdern, ein unfaßbar hemmungsloser, hochintelligenter Spaß und zugleich der politischste Film, den ich je gesehen habe, denn er nennt die Probleme kurz und klar beim Namen, zeigt sich zugleich aber völlig illusionslos, was deren etwaige Lösung anbetrifft. Allgemeine Begeisterung, nee, von wegen, hinterher wird gemäkelt, viele Leute haben irgendwas vermißt. Kulturloses Fußvolk! Banausen! Was hab ich mit euch zu schaffen, ich begebe mich lieber mal weg von euch in den VIP-Bereich, wo die Coen-Brüder und George Clooney und Humphrey Bogart mit Selma Lagerlöf den Jitterbug tanzen. An der Tür dann allerdings Ernüchterung: Man läßt mich nicht rein, ich bin also doch keine VIP, sondern nur eine P. War ja auch klar, ich bin ja nur ein 21jähriger, der sich planlos an Filmhochschulen bewirbt – nee, Moment mal. Versuchen wir es doch mal, wie wir es sonst aus Gründen der Selbstachtung nicht versuchen, also ungefähr so: Tschuldijung, Brüggemann mein Name, ick hab hier mal vor zwee Jahren so‘n silbernet Tier jewonnen, so‘n Wurfjeschoß, dürfte ick eventuell…? Aha. Moment bitte. Frau in Uniform geht ab. Frau in Uniform tritt wieder auf. Nee, kommen Sie in ner halben Stunde wieder. Okay. Fairer Deal. (An dieser Stelle kurzes Hohelied auf die ganzen Einlasser-Garderoben-Nachtschichten-Menschen. Die sind die wahren VIPs. Gebt ihnen Trinkgeld. Hab ich heute an der Garderobe einer Veranstaltung mit 800 Anzugträgern einfach mal gemacht. Fühlte sich etwas komisch an. Wurde mit ungläubiger Freude quittiert.) Also zurück zum Non-VIP-Fußvolk, dort erleichterte Feststellung: Ist doch total nett hier. Anwesend unter anderem die Non-VIPs Sebastian Schipper, Christian Petzold, Hans-Christian Schmid und Tom Tykwer. Moment mal, wenn diese Titanen für die Berlinale keine Sehr Wichtigen Personen sind, wer denn dann? Lassen wir die Frage einstweilen unbeantwortet im Raum herumstehen und unterhalten uns mit Tom Tykwer. Der erzählt, warum sein neuer Film nicht auf der Berlinale läuft. Es lag am fehlenden Armbändchen. Sie haben ihn nicht reingelassen. Diese Quatsch-Erklärung ist natürlich nur Platzhalter für den wahren Grund, der interessant ist, aber nur in VIP-Kreisen verbreitet werden darf. Halbe Stunde später, nüscht wie rin ins VIP-Areal, und da tummelt sich:
Niemand.
Gähnende Leere.
Wenn die demografische Entwicklung so weitergeht, dann wird das Betreten unserer schönen VIP-Area namens Deutschland in ein paar Jahrzehnten genauso vonstatten gehen. Man denkt: Hurra, geil, endlich lassense mich rein, dann kommt man rein, und da sind gerade noch zwei Leute, die den Müll zusammenfegen und die Lichter ausmachen.
Weil man aber nicht gleich immer die große Deutschland-Metapher aufmachen muß, nochmal eine Nummer kleiner. Irgendwie ist das auch ganz toll. Ein Moment von abstrakter Schönheit. Verweile doch, du bist so schön.
Und drittens: Ey Männo, get real! Das ist doch immer so, Mähäänsch! Sponsoren müssen bei Laune gehalten werden und Finanziers und Geld und überhaupt und werd erstmal erwachsen und komm mal klar, du Pappnase!
Okay, ich bin ja eigentlich erst 21 und etcetera, ich halte jetzt den Mund.
Epilog: Bei den VIP-Rauchern, da ist dann doch noch was los. Kleine VIP-Fachsimpelei mit einer befreundeten Berlinale-Insiderin, die mir sagt: Schreib das aber nicht auf deinen Blog, sonst wirste nie wieder eingeladen.
Na klar. Immer gern.
Dieser Text versteht sich als Anfang einer sportlichen Übung: Jede Nacht vorm Schlafengehen und selbstverständlich stocknüchtern ungefiltert aufschreiben, was mir vom Berlinale-Tag hängenblieb, und sofort ohne nochmaliges Lesen veröffentlichen. Wenn mir nix mehr einfällt oder ich feststelle, daß ich einfach zu nüchtern bin, lasse ich es halt wieder bleiben.

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