Berlinale, Tag 7 – Mein Kino ist kaputt

Vor ungefähr 16 Jahren hatte ich mal eine Idee für einen Kurzfilm: Zwei Leute finden heraus, daß die ganzen Windmühlen, mit denen Deutschland so nach und nach vollgestellt wird, in Wahrheit gar nicht vom Wind angetrieben werden, sondern vielmehr umgekehrt. Es handelt sich da um eine Verschwörung. Die Windräder funktionieren wie Propeller, die ein Flugzeug antreiben, sie beschleunigen die Erdrotation, woraufhin die Erde sich immer schneller dreht und wir alle immer weniger Zeit haben. Unsere zwei Helden ziehen also in einen Kampf gegen Windmühlenflügel, während ihnen buchstäblich die Zeit davonläuft. Den Film habe ich dann nie gemacht, aber was mir an der Idee immer noch gefällt, ist die Verwechslung von Ursache und Wirkung und der darin wohnende Wahnsinn.

Nach einer Woche Berlinale weiß ich auch nicht mehr so genau, was Ursache und was Wirkung ist, und irgendwo wohnt der Wahnsinn. Man sieht ja normalerweise nicht das, was man sieht, sondern das, was man weiß, weil der Kopf von vornherein einen Filter auf die Wahrnehmungen legt, und das ist auch gut so. Ich treffe meinen lieben Freund Andrew Bird, genannt Birdy, der einen Film für einen Regisseur namens Omer Fast geschnitten hat, und stelle die wahnsinnig naheliegende Frage: Is it a fast film? Birdy ist auf diese Koinzidenz tatsächlich noch gar nicht gekommen, bei ihm funktioniert der Filter noch, meiner ist im Eimer. Ich sehe, daß an der Tafel hinter irgendeiner Bar „Erdinger“ steht, und lese: Eidinger. Ich unterhalte mich mit Fernsehredakteuren über einen Kollegen, der mit Vornamen Burkhardt heißt, und höre mich sagen: Eigentlich interessant, daß dieser ehrwürdige deutsche Vorname klingt wie ein afghanisches Vollverschleierungskleidungsstück. Die Wahrnehmungen, sie zerfallen mir im Kopf wie modrige Pilze. Und ich erkenne niemanden mehr. Also wirklich niemanden. Auf einer Party steht plötzlich eine gutaussehende Dame im besten Alter vor mir und begrüßt mich mit großer Herzlichkeit. Ich komme kurz ins Grübeln: Wir sollten uns kennen, nicht wahr? Ja, erwidert die Dame, ich bin deine Mutter. Dann spricht mich eine wunderhübsche blonde junge Frau an und behauptet, sie wäre meine Schwester Anna. Ich kann mich dunkel an sie erinnern. Sie erzählt von zahlreichen Schauspielkollegen, die zu ihr kommen und sagen: Du, sag mal, dein Bruder, der mag mich nicht, oder? Doch, ich mag euch alle heiß und innig, ich habe nur einfach keine Ahnung, wer ihr seid. Nehmt es als Kompliment, denn den Glöckner von Notre Dame, den Sänger von Rammstein oder den Elefantenmensch würde ich jederzeit wiedererkennen. Der Sänger von Rammstein lief übrigens auf der gestrigen Party herum, hat mich aber nicht erkannt, obwohl ich vor 12 Jahren mal Regieassistent bei einem Rammstein-Video war. Ich bin ihm nicht böse. Aber mir sind sie böse. Tolle Leute, mit denen ich schon bestens zusammengearbeitet habe, stehen vor mir wie Fremde und gucken mich vorwurfsvoll an. Und wenn sie dann noch stark zu- oder beträchlich abgenommen oder sich irgendwelche Frisurvarianten zugelegt haben. Da hat man doch gleich gar keine Chance mehr. Es ist ein Grauen. Wenigstens weiß ich noch, wovon meine eigene Arbeit handelt:

My work explores the relationship between gender politics and copycat violence. With influences as diverse as Wittgenstein and John Lennon, new tensions are created from both orderly and random discourse. Ever since I was a teenager I have been fascinated by the ephemeral nature of relationships. What starts out as triumph soon becomes corroded into a manifesto of distress, leaving only a sense of chaos and the chance of a new understanding. As subtle forms become reconfigured through boundaried and critical practice, the viewer is left with a clue to the darkness of our culture.

Das habe ich allerdings nicht selber geschrieben, so etwas kann man sich im Internet automatisch generieren lassen. Bis vor wenigen Jahren war ja das herrschende Narrativ, also das allgemeine Gequatsche, in das Kulturschaffende verfallen, wenn man sie nach ihrer Arbeit fragt, vorwiegend geprägt von Begriffen wie Zersplitterung, Fragmentierung, Risse, Brüche, Spalten, Löcher, Ende der großen Erzählungen. Das hat sich für mein Gefühl in den letzten Jahren ein wenig geändert, das typische Künstlerbekenntnis handelt heute eher von ich, ich und ich, Transformation des Selbst, Metamorphosen, fluiden Identitäten und derlei mehr. Ich kann mich mit beidem komplett identifizieren, meine großen Erzählungen sind auch beendet, die Wahrnehmungen sind zersplittert, und meine Identität fließt mal hierhin, mal dorthin. Übrigens wurde bei der Erzählung vom Ende der großen Erzählungen ja immer verschwiegen, wie sie denn nun eigentlich enden, die Erzählungen. Ist es ein trauriges, ein fröhliches oder gar ein offenes Ende? Oder eher so wie das Nicht-Ende, das sich ergibt, wenn man den Film vorzeitig verläßt?

Ich gehe mal wieder in der Retrospektive: „Preis der Freiheit“, ein Fernsehfilm von 1966. Es geht irgendwie um Grenzsoldaten auf beiden Seiten der Grenze. Ich kapiere: Nichts. Wer sind jetzt die Ossis und wer die Wessis? Warum fährt die NVA mit einem Jeep herum? Wer will was von wem? Irgendwo lauert da eine große Erzählung, ich beende sie und gehe raus, weil ich schon wieder eine Karte für einen anderen Film habe: Zero Days, ein Dokumentarfilm über einen Computervirus, läuft im Wettbewerb. Auch hier wieder eine Welt, die in digitale Fragmente zerfällt. Der Film knallt ordentlich. Amerikanische Dokumentarfilme scheren sich einen Dreck um das Ende der großen Erzählungen, die machen aus jedem Sujet einen Thriller. Ich muß aber auch hier leider wieder früher raus, weil ich schon wieder woandershin muß. Die Berlinale geht in den Kiez. Im Union Kino in Friedrichshagen läuft das Fragebuch der Anne Tank, nee, umgekehrt, Verzeihung, und da spielt die entzückende Lea van Acken die Hauptrolle. Ich habe Lea seinerzeit „entdeckt“ und darf deswegen eine kleine Einführungsrede halten. Das Kino ist wunderschön. Ich möchte in ruhigeren Zeiten mal eine kleine Rundreise durch Berliner Kiezkinos machen. Es gibt hier sogar eine Raucherkabine im Kinosaal: Zwei alte Sofas, davor eine Glaswand. Der Anblick erinnert ein bißchen an diese Hinrichtungszuschauerkabinen in Filmen, in denen man drinsitzt und dem Tod bei der Arbeit zusieht. Auch hier im Kiezkino haben wir es wieder mit postmoderner Zersplitterung zu tun: Ich bin da, Lea ist ganz woanders, die mußte nämlich wieder zur Schule gehen. Auf die Lea-van-Acken-Entdeckung bilde ich mir übrigens nicht so wahnsinnig viel ein, Lea hat sich selber entdeckt, ich mußte nur zugreifen. Wenn ich jemanden entdeckt habe, dann zum Beispiel Heiner Hardt, der war nämlich schon 50, als ich ihn kennenlernte, und den besetze ich stur und gnadenlos in jedem Film, bis Deutschland endlich mal merkt, was für ein toller Schauspieler das ist. Schauspielerkarrieren sind mir sowieso ein völliges Rätsel. Am Anfang sehe ich gute und schlechte Leute, die gehen dann in eine Art Black Box hinein, was in dieser Box passiert, ist völlig unklar, heraus kommen erfolgreiche und erfolglose Schauspieler, die gleichmäßig aus den guten und schlechten, den interessanten und den langweiligen durchmischt sind. Einige werden irgendwann „entdeckt“, andere nicht. Wer, warum und wie? Keine Ahnung.

Hergekommen bin ich mit einem Berlinale-Fahrer in einem makellos nagelneuen Audi, bei dem die Sitze so computeranimiert sauber sind, daß man Angst hat, sich draufzusetzen. Wohl aufgrund der allgemeinen Fragmentierung ist der Fahrer dann aber versehentlich ohne mich wieder weggefahren, also geht es mit dem Taxi zurück. Die Taxifahrerin fährt seelenruhig über eine knallrote Ampel. Ich sage: Das war ja knallrot. Sie erweist sich ebenfalls als Expertin für Ursache-Wirkungs-Vertauschung und erwidert: Nee, ich fahr nur bei Grün, also war die Ampel grün.

Abends dann eine persönliche Premiere. Alle gehen immer ins Borchardt. Ich war noch nie im Borchardt. Eine gleichermaßen große und sympathische Produktionsfirma (doch, das gibt es) lädt zum Essen ein, und zwar ins Borchardt, also gehe ich endlich mal ins Borchardt. Im Borchardt sitzen schon sehr viele Leute, das sind wahrscheinlich alles Promis, aber ich erkenne sie nicht, weil ich ja eh niemanden erkenne. Außerdem ist es irre laut im Borchardt. Solche Läden sind auf visuelle Beeindruckung angelegt, majestätische Blickachsen und raumgreifendes Raumgefühl, das führt dann andererseits zu Bahnhofshallenakustik. Wir schreien uns die ganze Zeit an. WAS MACHEN SIE BERUFLICH? brülle ich meiner Nachbarin ins Ohr. ALLERDINGS! brüllt sie zurück. MAGST DU NOCH EINE AUSTER? kreischt es von gegenüber über den Tisch. SEHR GERN! schreie ich. Das ist natürlich maßlos übertrieben. Ohnehin darf man den Wahrheitsgehalt dieses Tagebuchs nicht überschätzen. Ich bin jetzt so eine Art Klatschkolumnistin geworden, das ist eine Rolle, die ich mir gern anziehe, aber ich muß darauf hinweisen, daß ich eigentlich die ganze Zeit nur über mich selber schreibe. Wenn doch mal andere Leute auftauchen, dann habe ich sie zu literarische Figuren verfremdet (außer den Gregors im gestrigen Beitrag, die sind unverfremdbar). Auch meine Freundin, die hier gelegentlich auftaucht, die habe ich mir eigentlich nur ausgedacht, und die echte hat mit der ausgedachten nix zu tun.

Meine beiden Freundinnen, also die echte und die ausgedachte, haben vor einiger Zeit mal auf der Berlinale gearbeitet und Tickets gescannt, und eines Tages sagten sie den unsterblich schönen Satz:
Mein Kino ist kaputt.

Ja, das Kino, vor dem sie stand und Karten kontrollierte, war kaputt. Und so etwas geht überhaupt erst seit einiger Zeit. Früher, da konnte vielleicht mal ein Film reißen, eine Lampe durchbrennen oder eine Filmkopie in den Orkus fahren, aber das ganze Kino ging kaum kaputt. Mein bisher bleibendster Beitrag zur Filmgeschichte ist, daß ich als Vorführer beim Filmfest München 1999 eine Kopie eines Films namens „Pola X“ vernichtete. Es war nachts um drei, ich baute den Film ab, wie man damals sagte, also ich spulte im Halbschlaf die einzelnen Akte vom Teller, anscheinend fuhr ich etwas zu schnell, dann geriet der Teller ins Vibrieren, es tat einen Schlag, und drei Kilometer Film flogen mir um die Ohren. Filme konnten also schon immer kaputtgehen, Kinos erst neuerdings. Da kommt der Vorführer morgens an den Arbeitsplatz und will sich in den DCP-Server einloggen, geht aber nicht, keine Zugriffsrechte, nix zu machen. Anscheinend hat sich nachts irgendwer mit höheren Zugriffsrechten eingeloggt und die Möbel umgestellt. Oder es war der Computervirus aus dem amerikanischen Wettbewerbsfilm. Oder die Heinzelmännchen. Oder irgendwas. Dann setzt sich in London ein Techniker ins Flugzeug und in München ein Spezialist in den Zug und man schafft ein Ersatzteil aus Los Angeles herbei und schleppt einen Ersatzserver in den Vorführraum und muß dafür erstmal die Tür ausbauen. Das war früher einfacher. So richtig postmodern zersplittert ist die Welt erst, seit alles digital ist.

Ich bin ja übrigens kein Zelluloid-Nostalgiker. Steven Soderbergh erwiderte mal auf die Frage, ob er 35mm vermißt: In den 60ern und 70ern, da gab es eine kreative Freiheit und einen Enthusiasmus und Aufbruchsstimmung, das ist heute alles verschwunden, das vermisse ich schmerzlich, aber doch nicht diese alten Filmbüchsen. Ich finde, das hat er gut gesagt. Letzten Endes ist es egal, und in 1000 Jahren ist eh alles weg. Was nicht egal ist, sind die Leute, die daran hängen. Wenn an jedem DCP-Server ein Nerd sitzen würde, der komische Klamotten trägt und sich seltsame Scherzpostkarten in den Vorführraum hängt und alle Filme kennt und Witze macht, die nur er versteht, dann fände ich das toll. Aber genau dieses Soziotop wurde von der Digitalisierung weggefegt, und das finde ich schade. Genau wie die Videotheken, das waren greifbare Orte, an denen Film als Alltagskultur stattfand. Der Zelluloid-Nostalgiker Quentin Tarantino war vor seiner Regiekarriere Videothekar, und wenn aus den Millionen Videotheken der Welt alle zehn Jahre ein Tarantino entspränge, dann hätte sich die Sache doch gelohnt. Dabei bin ich ja selber noch nicht mal ein besonderer Tarantino-Fan, aber ohne ihn würde was fehlen, und ohne Videotheken und Vorführraum-Nerds fehlt auch was.
Also: Schade.

Aber Nostalgie-Trip war ja gestern, heute geht es um postmoderne Zersplitterung und das Ende der großen Erzählungen. Dementsprechend ist auch dieser Text ganz und gar zersplittert. Das Wort „dementsprechend“ kann man schön falsch trennen, dann heißt es „dement sprechend“, und ungefähr so komme ich mir die ganze Zeit schon vor. Heinz Rudolf Kunze sagte, nee, sang mal: Auf der Leinwand steht nicht Ende, sondern Schluß. Ich sage: Mein Kino ist kaputt. Aber vielleicht wird ja morgen schon das Ersatzteil geliefert. Also bis morgen, liebe Leser innen und außen.

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