Berlinale, Tag 2 – Ich brauche was zum Andocken

Gegen Mittag besuche ich meine Freundin, die ein wenig auf der Berlinale arbeitet. Meine Freundin ist eine Powerfrau, energisch und liebenswert. Danach kurz zu Roland, dem Schrauber, der soeben mein uraltes Auto durch den Tüv schraubt. Roland ist ein ehrlicher Kumpeltyp und ebenfalls liebenswert. Danach Kaffee mit Carola, einer uralten Freundin aus München, die zur Berlinale in der Stadt ist. Carola ist eine toughe, aber verletzliche, äh, ebenfalls Powerfrau, und außerdem auch liebenswert. Warum diese bescheuerten Phrasen? Habe ich noch alle Tassen im Schrank?

Stellen wir die Frage mal kurz zurück und gehen ins nächste Meeting. Ich habe jetzt nämlich die einmalige Chance, einigen Top-Entscheidern der deutschen Filmbranche mein nächstes Projekt zu präsentieren. Es wird diesmal ein Genrefilm. Und den stelle ich mir folgendermaßen vor: Der personifizierte Tod kommt in eine kleine Stadt, pachtet ein Grundstück direkt neben dem Friedhof, baut sich da ein Haus und umgibt es mit einer unendlich hohen Mauer (wir zeigen im Film niemals die obere Mauerkante, also ist sie unendlich hoch). Dann setzt der Tod sich neben ein verliebtes Pärchen in eine Gaststätte, und als die Dame kurz mal aufs Klo verschwindet, ist ihr Mann mit dem Tod fortgegangen. Sie geht ihm nach, landet vor der riesenhaften Mauer und sieht auf einmal eine Prozession von Geistern auf sich zukommen, die durch die Mauer hindurchgehen. Der Tod läßt auch sie ein und führt sie in eine Halle voller brennender Kerzen. Jede Kerze ist ein Lebenslicht. Jedes wird irgendwann verlöschen. Wenn die Frau ihren Geliebten vom Tod zurückhaben möchte, dann darf sie dreimal versuchen, einen Todgeweihten zu retten. Wird sie es schaffen?

Weil die drei Versuche im Morgenland, in Venedig und in China spielen, wird der Film recht teuer, aber zum Glück sind all meine Gesprächspartner mit Begeisterung dabei, nee, Schmarrn, der Film existiert längst, er ist von 1921 und heißt „Der müde Tod“. Damals fand man ihn angeblich nicht so gut, sagt zumindest Wikipedia, den Kritikern war er nicht deutsch genug, was immer das heißen mag, dafür ist es längst ein Klassiker, der weltweit Spuren hinterließ, zum Beispiel in den Köpfen von Alfred Hitchcock, Douglas Fairbanks und Luis Bunuel. Und überhaupt: Dämonische Leinwand! Das Weimarer Kino! Was für großartige Filme entstanden damals hierzulande! Wo ist sie hin, diese Tradition?

Stellen wir auch diese Frage einstweilen zurück und eilen weiter in den nächsten Film. „Midnight Special“ von Jeff Nichols im Wettbewerb. Ein unglaubliches Ding. Ein unglaublicher Sog. Die reale amerikanische Tristesse abseits der großen Städte, das Land der einsamen Tankstellen, wo man in der Tiefe der Nacht einen geschmacklosen Kaffee und etwas Chemie-Junkfood mitnimmt, um dann weiter stundenlang durchs Nichts zu fahren, das Land der öden Vorstädte mit ihren öden Gemeindezentren und Versammlungshallen, seltsam verschränkt mit einer seltsamen Fantasy-Geschichte: Ein Vater fährt mit seinem Sohn übers Land, fort von der gruseligen Sekte, bei der sie gelebt haben, der Sohn hat übersinnliche Kräfte, manchmal leuchten seine Augen, das FBI nimmt die gesamte Sekte fest und fragt sie aus, der Vater wird verfolgt, der Junge ist krank und darf das Tageslicht nicht sehen. Klingt alles exakt genauso seltsam wie „Der müde Tod“, wirkt genauso unheimlich und zwingend und seltsam.

Da ist sie also hin, die dämonische Leinwand. Und noch während der Film läuft, überlege ich: Was ist so toll an diesen Charakteren mit ihren zerfurchten Gesichtern und der stoischen Unbeirrbarkeit, mit der sie durch den Film wandeln?
Vielleicht folgendes:
Sie sind nicht liebenswert.
Sie sind erwachsen.
Sie sind einfach das, was sie sind.

Vor einigen Tagen richtete ich ja an dieser Stelle einen Appell ans deutsche Kino: Hör auf, so ernst zu sein. Aber das ist natürlich nur die halbe Wahrheit. Es gibt den öden Alltags-Ernst. Ein Brief von der Stadtverwaltung ist ernst. Und es gibt den heiligen Ernst. Eine Wagner-Oper oder ein WM-Finale sind ernst. Andererseits gibt es den Unernst, und auch den gibt es zweimal. Es gibt den großen, existenziellen Unernst eines Billy Wilder oder Woody Allen oder der Coen-Brüder. Und es gibt den gräßlichen Unernst einer bestimmten Sorte von Film, die ihren Figuren und auch den Zuschauern fortwährend auf die Schulter klopfen und sagen: Alles nicht so schlimm. Wenn irgendwann mal jemand so einen Film macht und sich dabei auf meinen Appell zum Unernst beruft, dann muß ich mir leider die Kugel geben.

Leider sind wir in Deutschland ziemlich weit vorn, was diese infantile Sorte Film angeht. Wohin man schaut, sieht man liebenswert-patente Senioren, die sich nicht unterkriegen lassen, liebenswert schrullige Kumpeltypen, die sich nicht unterkriegen lassen, liebenswerte zwanghafte Beamtentypen, die in ein exotisches Land fahren und dort  total crazy Leuten begegnen und das Leben zu schätzen lernen und sich natürlich auch nicht unterkriegen lassen. Und damit wären wir wieder beim Anfang dieses Textes. Wenn ich die Menschen um mich herum in diesem Vokabular beschreiben würde, dann wäre ich ein Vollidiot. Es gibt also keine Rechtfertigung, seine Filmfiguren so zu behandeln. Dieses infantilisierende, pädagogisch wohlmeinende, betuliche, drollige, niedliche, dem vermeintlichen Publikumswunsch eilfertig hinterherlaufende, das kann man gar nicht ausführlich genug beschimpfen. Es ist eine doppelte Entmündigung, nämlich des Zuschauers und der Filmfiguren. Und nein, es ist natürlich kein rein deutsches Phänomen, ich habe sowas auch schon aus Frankreich gesehen, und zwar im offiziellen Programm von Cannes.

Jedenfalls widerspreche ich mir jetzt selbst und rufe lautstark: Hört auf, so liebenswert zu sein! Her mit dem heiligen Ernst!

Richtig schlimm wird es dann aber, wenn Leute aus so tollen, vielschichtigen, unterschiedlichen Filmen wie „Midnight Special“ oder „Hail Caesar“ kommen und dasselbe sagen, nämlich: Mir hat irgendwie was zum Andocken gefehlt. Ich wußte nicht, bei welcher Figur ich mitgehen sollte. Eigentlich müßte man darauf erwidern: Dann geh doch heim zu deiner Mami, da hast du eine Figur zum Andocken. Ein Film ist nicht dafür da, dich an der Hand zu nehmen und mit dir auf den Spielplatz zu gehen und dich auf der Schaukel anzuschubsen. Werd erwachsen. Im Idealfall kannst du dann irgendwann sogar auf erwachsene Art erwachsen sein, nämlich nicht wie ein altkluger Jugendlicher, der alles besser weiß, sondern wie ein Erwachsener, der weiß, daß nicht alle Widersprüche aufzulösen sind und man auch mal auf das eigene Erwachsensein pfeifen muß.

Zack, schon wieder mittendrin in filmpolitischen Pauschalaussagen. Wollte ich ja eigentlich gar nicht. Vielmehr wollte ich zart-impressionistisch-feinsinnig von meiner persönlichen Berlinale berichten. Also, weiter ging es zu einer Veranstaltung namens „Blue Hour“. Die Stunde um Sonnenuntergang, wenn das Licht aus allen Richtungen zugleich zu kommen scheint und die Dinge von innen leuchten, nennt man die „blaue Stunde“. Ein toller Ausdruck. Im Englischen sagt man „Magic Hour“. Auch ein toller Ausdruck. Aber „Blue Hour“? Na ja. Heißt halt so. Anwesend unter anderem: Der liebenswert-jugendliche Produzent Jochen Laube. Der liebenswert-knorrige Verleiher Torsten Frehse. Der liebenswerte Programmdirektor der ARD, der liebenswert-energische Produzent Michael Lehmann und die liebenswert-ätherische Schauspielerin Odine Johne. Eigentlich wollte ich ja spät nachts betrunken bloggen, letzte Nacht hat meine Freundin protestiert, also bin ich ihrem Wunsch gefolgt und habe diesen Text morgens geschrieben. Schließlich brauche ich ja was zum Andocken, nee, das klingt zu dämlich, ich brauche was zum Mitgehen, und außerdem bin ich liebenswert.

3 Responses to Berlinale, Tag 2 – Ich brauche was zum Andocken

Schreibe einen Kommentar zu Alex Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.