Vor einigen Tagen ist mir ein kleiner Synthesizer „abgeraucht“, wie man so sagt. Ich war selber schuld daran. Ich hatte einen Stecker verkehrt herum auf die Platine gesteckt, und als ich dann den Strom einschaltete, floß der in die falsche Richtung. Nach drei Sekunden stieg Rauch auf, und das Gerät war Schrott.
Ein paar Tage später sah ich die Netflix-Doku „The Social Dilemma“. Sie handelt von den Suchtmechanismen unserer Internetwelt. Das meiste, was da gesagt wurde, kannte ich schon, denn es steht in den Büchern von Cal Newport („Digital Minimalism“) und Jaron Lanier („Ten Arguments for Deleting Your Social Media Accounts Right Now“). Letzterer ist im Film auch zu sehen und trägt sehr schöne Dreadlocks. Der Film gibt sich große Mühe, so flashig und zackig und rüberzukommen, wie diese neuen Netflix-Dokus halt immer sind. Man hat sich sogar einen Spielfilmteil geleistet, der qualitätsmäßig leider ein bißchen auf die Nase fällt. Und natürlich steigt Netflix hier nicht einfach so für das Gute auf die Barrikaden, sondern haut der Konkurrenz eine rein, denn Netflix ist ja selber einer von diesen Konzernen, die wollen, daß wir möglichst lang auf ihren Portalen kleben bleiben. Trotzdem ist der Film für sich genommen gut und wichtig. Alle sollten ihn sehen. Oder einfach die zwei genannten Bücher lesen.
Im Herbst 2008 meldete ich mich bei Facebook an. Eine Zeitlang fand ich das sehr lustig. Aber zwei Dinge fielen mir schnell auf: Erstens frißt es enorme Mengen an Zeit. Man will morgens an die Arbeit gehen, guckt nur mal schnell nach, was auf Facebook so los ist, klickt auf einen Link, liest sich irgendwo fest und dann noch woanders und dann schaut man zurück zu Facebook und ist über irgendwas total empört und schreibt einen wütenden Kommentar und schon ist der halbe Arbeitstag vorbei und dann ein halbes Jahr und dann das halbe Leben. Zweitens fiel mir auf, daß der Umgangston sich in eine unschöne Richtung bewegte. Es wurde gehässig, höhnisch und irgendwie autoritär. Das lag aber nicht an irgendwelchen rechtslastigen Spinnern (die existierten auch, aber das waren nicht meine Freunde), nein, es waren die Kreise, denen ich mich zugehörig fühlte. Immer öfter wurde bei jedem mittelschweren Vergehen gegen die eigene Weltsicht der ganz große Hammer rausgeholt. Alle waren dauernd „fassungslos“ und „kotzten im Strahl“. Nebenan bei Twitter ging es noch härter zur Sache. Da hatte ich mich auch mal angemeldet, fand es aber unerfreulich und hing dann eher so als Karteileiche herum, schaute über die Jahre ab und zu rein und bekam immer denselben Eindruck: Twitter ist der Tempel der intellektuellen Eitelkeit. Jeder Tweet, egal wovon er handelt, hat den Subtext: Guck mal, was für ein toller Geistesblitz! Guck mal, wie schlau ich bin und wie bekloppt die anderen sind! Und wie geil wir alle sind und wie doof der Teil der Menschheit, den wir heute beschimpfen! – Nein, natürlich nicht jeder Tweet. Man findet hier viele harmlose, freundliche oder rein informative Dinge. Aber der toxische Anteil ist doch recht groß.
Wie konnte es soweit kommen? So wie immer: Durch Reiz und Reaktion. Wir tun das, wofür wir Belohnungen bekommen, also Beifall und Herzchen von den Followern. Wie sehr man durch die roten Benachrichtigungen konditioniert wurde, merkte ich ja am eigenen Leibe. Die Facebook-Notification zerrt an der Aufmerksamkeit wie ein nerviger Dreijähriger. Dauernd guckt man nach, ob irgendwas passiert ist, und wenn jemand gelikt hat, gibt es einen kleinen Kick im Gehirn. Es ist mittlerweile belegt und bewiesen, daß hier tatsächlich Suchtmechanismen getriggert werden, und zwar nicht per Zufall, sondern mit voller Absicht. Eigentlich muß man davon ausgehen, daß jede Social-Media-Persönlichkeit, deren Followerzahl ins Fünfstellige geht, im Grunde suchtkrank ist, egal ob das nun Donald Trump ist oder Jan Böhmermann oder wer auch immer.
Was sich da abzeichnete, das fand ich beunruhigend. Es waren die Mechanismen des Mobs. Der Ton macht bekanntlich die Musik, ich mag Musik, und dieser Ton gefiel mir nicht. Aber ich konnte auch an mir selbst beobachten, wie ich gegen dieses System keineswegs immun war. Immerhin war ich gegen Twitter immun, das war ja schon mal was.
All das war Anfang der 10er Jahre. In dieser Zeit flog der NSU-Skandal auf. Und da entstand die Idee, eine Komödie mit Neonazis zu machen, halb inspiriert von „Four Lions“ und halb von einem riesengroßen Plakat von „Kriegerin“, und da war auch schnell klar: Über Nazis sind die wesentlichen Witze in zehn Minuten abgearbeitet. Wir sollten uns schon ganz Deutschland vornehmen. Ich wollte aber nicht den hundertsten Deutschland-Nazi-Warnungsfilm machen. Alle warnen sich immer gegenseitig, daß wir hier in Deutschland noch ganz viel rechtes Gedankengut haben, daß also sowas jederzeit wieder passieren kann und daß wir alle ganz doll aufpassen müssen. Das ist auch die These aller Filme zum Thema. Ist ja auch nicht direkt total falsch, aber ich dachte mir eigentlich schon immer: Es ist mir zu unterkomplex, und außerdem fehlt mir da der Glaube. Wir haben einen stabilen rechten Rand von zehn oder fünfzehn oder sogar zwanzig Prozent, aber daß der an die Macht kommt, erscheint mir historisch unwahrscheinlich. Wenn die Gesellschaft wieder als Ganzes durchdreht, dann werden möglicherweise die Inhalte andere sein, aber der Modus ein ähnlicher. Wenn ich immer nur auf rechtes Gedankengut schaue, dann entgeht mir möglicherweise etwas.
So entstand der Film „Heil“. Er handelt nur am Rande von Social Media, aber er zeigte eine Gesellschaft, die im Umgang miteinander einer solchen Hysterie verfallen ist, daß sie es gar nicht merkt, wie eine Bande von Nazis in Polen einmarschieren will. Die Nazis finden sogar Unterstützung aus allen Teilen des Spektrums. Und der Ansatz war: Wir lassen die Leute im Film genau in dem Tonfall miteinander reden, wie sie das im Internet tun. Ich hatte das Drehbuch eher so für die Schublade geschrieben, weil ich nicht damit rechnete, daß irgendjemand hierzulande das finanzieren würde, aber nach dem Bären für „Kreuzweg“ ging es dann doch, also setzten wir alles auf eine Karte, ich ließ die meisten Festivals sausen und stürzte mich gleich wieder in Dreharbeiten. Ohne Bestsellervorlage und mit ein paar Kopien irgendwann im Hochsommer gestartet wird so ein Film dann eher kein Hit, aber ich finde es bis heute erstaunlich, daß wir ihn überhaupt gemacht haben.
Das ist jetzt auch schon wieder fünf Jahre her, und wir haben heute allerhand Dinge, die wir damals noch nicht hatten: Den Brexit, Donald Trump, etablierte rechtspopulistische Parteien in fast allen Ländern und hierzulande sogar als größte Oppositionsfraktion im Parlament. Der Online-Umgangston hat sich auch nicht groß geändert, und dann kam etwas, das keiner vorhergesehen hatte: Ein Killervirus. Oder eben kein Killervirus. Oder irgendwas dazwischen. Und schon fliegt uns der Hass wieder um die Ohren.
Aber wo genau kommt er her, der Haß? Mark Zuckerberg und Jack Dorsey haben ihn ja weder erfunden noch bewußt herbeigeführt. Es fing auch nicht erst mit Donald Trump an. „Alles war so schön, und dann kam plötzlich Trump“ ist keine zutreffende Darstellung der Ereignisse. Wir haben hier eine Dialektik, die weit zurückreicht, möglicherweise bis 1968, als der Antiintellektualismus erstmals in Mode kam. Auf alle Fälle begann mit Smartphone und Social Media, also ab ca. 2010, eine Spaltung, und in deren Kern steht für mein Empfinden auf beiden Seiten derselbe Denkfehler: Die Idee, man könnte den Gegner eliminieren, seine Existenz beenden und ihn vom Rand der Welt hinunterschubsen ins Nichts. Denn dieser Wunsch scheint mir hinter den ganzen aufgeregten Tweets und Facebook-Posts zu stehen: Die anderen sind so schlimm, daß sie gefälligst aufhören sollen zu existieren. Manchmal wird das sogar explizit geäußert, wie zuletzt unter dem Hashtag #ripjkrowling, der vor einigen Wochen den Tod einer Schriftstellerin verkündete. Spätestens hier kann man sich eigentlich nur noch an den Kopf fassen, die Augen rollen und sich an den Stalinismus erinnert fühlen, aber wenn man damit fertig ist, kann man die Situation auch analytischer anschauen und den Unterschied feststellen: Wenn mir Straflager und eine devote Justiz zur Verfügung stehen, dann kann ich alle Andersdenkenden einsperren und zum Schweigen bringen, aber wenn ich das nicht habe, dann bekomme ich so nicht die Alleinherrschaft über die öffentliche Meinung, sondern Lagerbildung und Eskalation. Wenn ich Jordan Peterson oft genug als brandgefährlichen Proto-Nazi bezeichne, guckt am Ende die halbe Welt seine Videos. Wenn ich mich oft genug über die Rednecks lustig mache oder ihnen erzähle, daß sie privilegierte Rassisten sind, dann gehen sie nicht etwa in die Ecke, um sich zu schämen, sondern zeigen mir einen Mittelfinger namens Donald Trump. Mit dem Wunsch nach Auslöschung mache ich meinen Gegner erst groß.
Übrigens bin ich damit keineswegs der Meinung, Donald Trump sei auch nur ein bißchen besser, als ihn alle finden (Jordan Peterson dagegen schon), oder die ganzen Q-Anon-Wahnsinnigen hätten irgendwo recht. Was da abgeht, ist ja offensichtlich das Grauen in Tüten. Jeder kennt diesen alten Schulkameraden oder die ehemalige Bekannte, die jeden Tag meterlange Facebook-Posts absetzt, meterweise wirres Zeug schwafelt und zwischendurch mit vielen Emojis betont, daß es ja doch nur auf positive Energie und Liebe ankommt. Klar ist das schlimm. Aber mir ist es zu einfach, nur mit dem Finger auf diese Leute zu zeigen. Damit lenkt man sich zu leicht von der eigenen Nase ab, an die gefaßt werden müßte. Und außerdem liest diese Klientel hier eh nicht mit, also muß ich sie auch nicht beschimpfen. Ablästern über Abwesende macht nur wieder so billige Wir-gegen-die-Stimmung, und da ist das Internet eh schon voll mit.
Um zu meinem abgerauchten Synthesizer zurückzukommen: Das eine erinnert mich an das andere. Jemand hat den Stecker verkehrt herum reingesteckt. Keiner der Mechanismen, die wir hier sehen, kam durch Social Media in die Welt. Das sind alles menschliche Unvollkommenheiten, die es schon immer gab. Mark Manson bringt es auf den griffigen Nenner: People are terrible. Der Wunsch, daß jemand, der anderer Meinung ist als ich, nicht existieren darf, steckt anscheinend tief in uns drin. Vielleicht, weil in der Steinzeitgesellschaft für sowas tatsächlich kein Platz war. Aber Social Media schaltet diese Unvollkommenheiten nun offenbar so zusammen, daß ein Kurzschluß entsteht. Die Leitungen laufen heiß, Feedbackschleifen fangen an zu glühen, dann steigt Rauch auf und das ganze Ding knallt durch.
Man könnte nun argumentieren, daß die menschliche Gesellschaft sowieso schon einen fortwährenden Kurzschluß verursacht, seit wir in Gesellschaften zusammenleben, in denen nicht mehr jeder jeden kennt, also vielleicht seit 5000 Jahren. In einem Dorf oder einer Nomadengruppe wird es vermutlich nicht viel Kriminalität geben, keine Haßprediger und auch keine Lynchmobs. In Städten schon. Aber für diese Dinge haben wir Vorkehrungen entwickelt. Es gibt Staatlichkeit, Gerichtsbarkeit, ein Gewaltmonopol, eine Unschuldsvermutung, den Grundsatz „im Zweifel für den Angeklagten“ und so weiter. Wir haben, um mal schön im Bild zu bleiben, Widerstände und Sicherungen eingelötet, damit uns eben nicht dauernd die Platine durchbrennt. Der Kurzschluß in der vernetzten Welt ist dagegen neu. Und der besteht nicht nur darin, daß jeder Idiot jeden anderen Idioten als Idioten beschimpfen kann und andere Idioten finden wird, die das liken. Es fängt schon damit an, daß viele Leute ihre Äußerungen von vornherein uniformieren, weil man als Mensch ungern in der eigenen Gruppe aneckt oder irgendwie auffällt. So entstehen Meinungsblasen und Echokammern, auch bekannt als „groupthink“. Die beiden Denkfehler-Bücher von Rolf Dobelli („Die Kunst des klaren Denkens“ bzw. des „klugen Handelns“) sind da immer wieder lohnende Lektüre. Fast jeder „cognitive bias“, den man dort findet, wirkt hinter diesen Social-Media-Mechanismen oder wird durch sie verstärkt.
Das Internet muß weg, sagt der Blogger Schlecky Silberstein. Ich stimme ihm zu. Zumindest dieses Internet muß weg. Man hört immer wieder den Appell an die Internetkonzerne, ihren Inhalt schärfer zu kontrollieren. Ich halte es aber für keine ganz so tolle Idee, den Bock ein zweites Mal zum Gärtner zu machen. Ich will kein Wahrheitsministerium in Kalifornien, das entscheidet, was stimmt und was nicht. Und wenn wir das hätten, es würde keines unserer Probleme lösen, denn siehe oben.
Gegen Konzerne, die suchterzeugende Produkte auf den Markt bringen, helfen Gesetze, Zerschlagung oder Verstaatlichung. Ich wäre sehr dafür, fürchte aber, daß wir nichts davon bekommen werden. Und dann brauchen wir zumindest eine Ethik des Umgangs. Für den Umgang mit Alkohol haben wir die allgemeine Regel, daß wir uns nicht sinnlos besaufen und schon gar nicht tagsüber. Diese Regel wird nicht staatlich verordnet oder kontrolliert, aber wir bringen sie unseren Kindern bei, und Verstöße dagegen werden nicht geahndet, aber geächtet. Für den Umgang mit überzuckerten Lebensmitteln haben wir theoretisch die ähnliche Regel, daß wir gelegentlich mal reinhauen, aber nicht andauernd und literweise (diese Regel scheint aber zumindest in USA nicht so richtig zu funktionieren, wie man sich überzeugen kann, wenn man dort mal durchs Hinterland fährt und die dort lebenden Menschen anschaut, hier wären also staatliche Eingriffe eine extrem gute Idee, aber darauf kann man vermutlich ebenso lange warten wie darauf, daß EU oder USA oder sonst irgendwer Amazon und Facebook dazu zwingen, Steuern zu zahlen.)
Eine möglicher erster Schritt in einer Ethik des Umgangs mit Social Media wäre, es an die Leine zu nehmen wie einen Hund. Da müßte man einfach nur die gute alte Maxime „the medium is the message“ ernst nehmen, und dann käme heraus: Die Message von Twitter ist Twitter. Wenn also auf Twitter mal wieder ein wütender Mob herumpöbelt, dann sollte es gute Sitte bei Entscheidern und Regierenden sein, zu sagen: Das sind nicht „die Menschen“ oder „die Öffentlichkeit“, die hier Zeter und Mordio schreit, nein: Das ist Twitter. Und jetzt soll Twitter bitte mal wieder runterkommen.
Für uns alle wäre viel gewonnen, wenn wir den impliziten Vernichtungswunsch auf sozialen Medien genauso ächten würden, wie wir das mit Besäufnissen bei hellichtem Tag tun. So etwas macht man einfach nicht. Ich fordere also hiermit eine Erweiterung dessen, was zu Opas Zeiten „Netiquette“ hieß. Eine Moral, die nicht nur dem Einzelnen sagt: Benimm dich individuell anständig, sondern auch: Folge nicht dem Mob, mach dich selber nicht zum Bestandteil kollektiver Wutanfälle und laß dich von selbigen nicht ins Bockshorn jagen. Dazu würde dann auch gehören, daß jeder seinen eigenen Tonfall und die dahinterliegende Haltung kritisch hinterfragt (tue ich sofort: als ob das jemals irgendwo funktioniert hätte!), daß man sich die eigene Abhängigkeit vom Dopaminkick der Likes und Retweets bewußt macht (und dann aber genauso weitermacht) und daß man sich die eigene Anfälligkeit für „groupthink“ vor Augen hält (aber man hat ja RECHT, verdammt nochmal!).
Solche Appelle aus der Abteilung „wir alle müßten und sollten“ sind so wirkungslos wie Politikersonntagsreden in gähnend leeren Kirchen ohne Publikum, danke, ist mir auch klar. Die konsequente Antwort kann am Ende nur sein, von diesen Plattformen zu von verschwinden und woanders hinzugehen. Wenn das Medium die Message ist, erzeuge ich mit allem, was ich auf Facebook von mir gebe, am Ende Facebook-Content. Also ein weiteres Element, mit dem die Aufmerksamkeit anderer Leute auf Facebook festgeklebt wird. Will ich das? Eigentlich nein. Für mich persönlich habe ich deswegen beschlossen, in Zukunft wieder mehr zu bloggen und weniger auf Social Media herumzuhängen. Da bleibt dann auch mehr Zeit, an elektronischen Musikinstrumenten herumzuschrauben und sie so zusammenzubauen, daß sie hoffentlich am Ende nicht in Rauch aufgehen. Das ist eigentlich gar nicht so schwierig. Ich war unaufmerksam. Vielleicht war ich in Gedanken gerade bei irgendwas, was ich auf Facebook gelesen hatte.
Das hätte ein nettes Schlußwort sein können, aber ich will diesen Text nicht mit so einem halbguten Witz beenden, also beende ich ihn stattdessen mit einer, jawohl, Vision. Sie lautet: Die Idee von Facebook & Co ist ja eigentlich ganz gut. Ist doch nett, per Internet mit Leuten auf der ganzen Welt in Kontakt zu treten. Wir brauchen also eine offene, nichtkommerzielle, nicht süchtigmachende Alternative, die uns als Gesellschaft kollektiv gehört. Diese zu bauen, das könnte eine der großen Aufgaben unserer Generation sein. Auf Facebook werden sowieso irgendwann mehr Tote als Lebende sein. Laßt uns also zusammen einen neuen Ort erschaffen, wo die Lebenden zusammenkommen können, ohne einander den Tod zu wünschen! Gemeinsam können wir das schaffen!
Dieser Wunsch ist natürlich wieder so ein hoffnungslos blauäugiges, utopisches Luftschloß aus Wolkenkuckucksheim. Mit anderen Worten: Wird nicht passieren. Andererseits ist das mit Leben und Tod ein noch viel schöneres Schlußwort als der erste Versuch von weiter oben. Auf so ein Schlußwort wären Redenschreiber von CDU bis Linkspartei bestimmt sehr stolz. Also belasse ich es dabei.
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Noch ein Nachtrag, der nicht so richtig dazugehört, aber irgendwie doch: Von den zwei Problemen, die ich eingangs genannt habe, ist das erste vergleichweise einfach zu lösen (also immer noch schwer genug). Die Kontrolle über die eigene Aufmerksamkeit muß man sich zurückholen, und zwar mit derselben Penetranz, mit der sie angegriffen wird. Ich schreibe diesen Text und alles, was ich schreibe, auf einem zehn Jahre alten Laptop, der keinen Internetanschluß hat. Das für WLAN zuständige Dings ging irgendwann kaputt, das war mir sehr willkommen, ich habe es so gelassen. Dann gingen auch Bildschirm und Grafik übern Jordan, die habe ich notdürftig reparieren lassen, mir sodann für Alltagskram und Medienproduktion einen neuen Laptop geleistet und den alten zur internetfreien Schreibmaschine degradiert bzw. befördert. Mein Handy liegt währenddessen nicht neben mir, sondern fünf Kilometer entfernt, ich lasse es nämlich zuhause, wenn ich in die Schreibstube fahre. Wenn ich es dann doch mal mitnehmen muß, dann wird es zum Arbeiten ausgeschaltet und im Nebenzimmer deponiert. Außerdem habe ich Facebook und Twitter vom Smartphone eliminiert, die gibt es nur auf dem anderen Computer, der aber eben auch zuhause liegt. Zum Arbeiten habe ich mir eine sehr große Sanduhr zugelegt, die 90 Minuten läuft und mit der man sich den Tag wunderbar in Arbeitsphasen einteilen kann. Auf diese Art, mit diesem Zwang zur Konzentration, schreibt sich dann auch mal ein Drehbuch in ein paar Wochen. Das Schöne daran ist, daß man sich mit dieser Methode nach einer Weile auf einen Modus konditioniert hat, der dann sogar konzentrierte Arbeit ermöglicht, wenn doch mal Internet in der Nähe ist. Das Unschöne ist, daß der mentale Zuckerwatte-Effekt von „irgendwas im Internet lesen“ damit keineswegs aus dem Leben verschwunden ist. Man daddelt weiterhin im Netz herum, aber vielleicht nicht mehr ganz so schlechtem Gewissen. Wie gesagt, ich empfehle die jeweiligen Bücher von Cal Newport und Jaron Lanier und in letzterem vor allem das Kapitel namens „Social Media is turning you into an asshole“. Und damit wären wir wieder mittendrin im oben bereits ausführlich durchgekauten Thema.
3 Responses to Du sollst nicht existieren