Ein paar Gedanken zum sogenannten Fall Til Schweiger
Der folgende Text erschien ursprünglich am 31.5.2023 in der WELT.
Vor vielen Jahren fand ich in meinem Keller ein altes Exemplar der Bildzeitung. Es stammt vom 14. August 1969. Schlagzeile des Tages war Ermordung von Roman Polanskis hochschwangerer Ehefrau Sharon Tate sowie vier anderer Menschen. Die Überschrift dazu lautet “Die Henker von Hollywood kamen vor dem ersten Drink”. Oben ist ein Foto von Polanski und Tate, darunter steht “Ihr Leben war Liebe, Extase, Arbeit und Rausch”. Neben dem Text steht ein Bild von Sharon Tate in lasziver Mona-Lisa-Pose und dazu die Bildunterschrift “Ich brauche Sex, immer wieder Sex.” All das ist im historischen Abstand irgendwie lustig, aber vor allem ist bemerkenswert, dass der angeblich ausschweifende Lebensstil der Getöteten das Interessanteste an dieser Mordtat zu sein scheint – fast so, als sei der Mord die gerechte Strafe für das Wälzen im babylonischen Sündenpfuhl.
Aber sind wir doch mal ehrlich: Wir wissen doch alle, dass die beim Film es mit der Moral etwas lockerer nehmen, gerne feiern (mit anderen Worten: saufen), in häufig wechselnden Konstellationen in die Kiste hüpfen, dass Regisseure außerdem Despoten sind und, wenn es ganz schlimm kommmt, sexuelle Dienstleistungen von Schauspielerinnen verlangen. Genau wie man übrigens weiß, dass die Modebranche von dürrgehungerten Hexen beherrscht wird, die nach Feierabend kleine Kinder schlachten, dass in Restaurantküchen herumgebrüllt und zwischendurch gekokst wird, und was Rockmusiker so tun, das weiß man ja ohnehin. Man weiß zwar nicht, woher man all das weiß, aber man weiß es halt.
Es waren vielleicht derartige Stereotypen, die dem Stummfilmkomiker Roscoe (genannt “Fatty”) Arbuckle vor hundert Jahren zum Verhängnis wurden. Arbuckle war seinerzeit einer der ganz Großen, er hatte zudem einen Ruf als feiner Kerl, doch das half ihm nicht, als auf einer Party, deren Gastgeber er war, eine Schauspielerin zusammenbrach und kurz darauf verstarb. Sie war einschlägig vorerkrankt und dem Alkohol zugeneigt, es war ein unglückliches Zusammentreffen, doch die Boulevardpresse schoß sich auf Arbuckle ein, unversehens stand er als Vergewaltiger und Totschläger am Pranger, nichts davon stimmte, er wurde freigesprochen, aber egal, Freunde wurden gedrängt, sich zu “distanzieren” was sie selbstverständlich auch taten, nur Buster Keaton hielt zu ihm, doch Fatty Arbuckles Ruf war ruiniert und seine Karriere im Eimer. Das Ressentiment gegen Hollywood steigerte sich im Zuge dieser Affäre zur moralischen Hysterie, die schließlich zum “Production Code” führte, einem Regelsystem, in dem festgelegt war, was alles nicht gezeigt werden durfte, und der bis in die 50er Jahre galt (z.B. Küsse nur im Stehen, nicht im Liegen).
Für die Filmkunst war das vielleicht sogar gut, absurde Regeln spornen ja die Kreativität an, aber trotzdem muß man sich fragen, warum gerade die Branchen, die für Freizeitgestaltung zuständig sind, oft im Fokus eines solchen Ressentiments stehen – oder vielleicht ist das auch klar: Wer dort arbeitet, wo andere sich amüsieren, der könnte mehr Spaß haben als ich, und das darf ihm nicht gegönnt werden. Der zweifelhafte Ruf, den Filmschaffende, Skilehrer und Modemagazinchefinnen genießen, kommt bestimmt zum Teil aus diesem Neid, und ähnliches gilt möglicherweise über die Schauergeschichten von schlimmen Arbeitsbedingungen am Filmset, die alle paar Jahre hochkochen. Was wiederum nicht heißt, dass es all das nicht wirklich gäbe. Ein Klischee wird ja nicht ganz aus Versehen zum Klischee. Ich staune immer wieder über Geschichten von Kollegen, die sich spektakulär danebenbenehmen, Drehzeiten überziehen und ihre Produzenten in millionenschwere Pleiten reiten. Ich würde mich das schlichtweg nicht trauen. Ich würde es auch nicht wollen. Andererseits bin ich immer etwas skeptisch, was den Wahrheitsgehalt solcher Geschichten angeht, genauso wie ich skeptisch bin, wenn die Bildzeitung schreibt, dass Sharon Tate immer wieder Sex braucht.
Es gibt da nämlich eine Tugend namens “Medienkompetenz”: Was in der Zeitung steht, ist zunächst eine Zeitungsmeldung. Leider neigen die Leute aber nicht so sehr zur kritisch hinterfragenden Medienskepsis, dafür aber sehr zur Massenhysterie, die stets hinter einer Fassade aus empörtem Moralempfinden einen Kern aus Niedertracht enthält und die stets medial losgetreten und befeuert wird, Fatty Arbuckle kann kein Lied mehr davon singen, weil er zehn Jahre nach dem erwähnten Vorfall an Herzversagen starb, insofern wunderte es mich kein bißchen, dass nach dem Til-Schweiger-Rundumschlag im “Spiegel” allerhand Menschen aus der Filmbranche sich empört-emotional echauffierten, so gehe das jetzt aber wirklich nicht weiter, bis hin zur Kulturstaatsministerin, für die ein vorwurfsvoller Text in der Bildzeitung, ach nein, Verzeihung, im “Spiegel”, offenbar auch schon Anklage und Urteil im praktischen Vorteilspack darstellt, weitere Beweisaufnahme unnötig.
Ich kenne Til Schweiger nicht persönlich. Seine Filme erreichen regelmäßig ein Millionenpublikum. Ich muß sie deswegen nicht gut finden. Ich muß ihn deswegen nicht doof finden. Die Welt ist groß genug für uns beide. Mit anderen Worten: Er ist mir weitgehend egal. Ich fand es anerkennenswert, dass er zu Corona-Zeiten seiner Skepsis Ausdruck verliehen und sich dafür von der versammelten Oberlehrerschaft der deutschen Presse maßregeln lassen mußte. Es kann sein, dass er ein massives Alkoholproblem hat. Dann wäre Therapie eine gute Idee. Was hingegen nicht sein kann, ist, dass er für sämtliche Fehler und Pannen, die an seinen Sets passieren, persönlich haftet. Aber das will uns der Text im “Spiegel” unter anderem weismachen. Vielleicht liegt das daran, dass die wenigsten Nichtfilmleute wissen, wie ein Filmset eigentlich funktioniert. Es ist mythenumrankt. Aufklärung muß her. Im folgenden also ein Versuch.
Dreharbeiten sind eine rätselhafte Welt. Ein Filmset hat etwas, das ein Büro nicht hat: Aura. Wessen Herz nicht aus Beton besteht, der bemerkt die Magie, die hier waltet. Man findet diese Aura auch am Theater, in Musikstudios und Backstageräumen, in Ateliers und Galerien. Hier wird Kunst produziert, also ein irrationaler Mehrwert, den wir nicht völlig erklären können. Daher die Anziehungskraft solcher Orte. Viele wollen hier arbeiten, und viele wollen nie mehr in einen Bürojob, wenn sie mal hier waren. Filmdrehs sind Abenteuer. Wir werfen Gepäck und Technik auf die Ladefläche, fahren in die Walachei und machen etwas Verbotenes. Sogar in der routiniertesten Folge Großstadtrevier steckt ein Funken von diesem Abenteuergeist, und wenn der mal weg ist, dann kann man auch gleich im Großraumbüro anfangen.
Andererseits sind Filmdrehs straff durchorganisiert. Jede Abteilung hat ihre eigene Hierarchie und ihre eigenen Rituale. Über allem schwebt der Produzent. Er engagiert den Produktionsleiter, der wiederum das Team anheuert und über dessen Tisch alles Finanzielle geht. Der Herstellungsleiter macht die Verträge und die Versicherungen. Der erste Aufnahmeleiter koordiniert den praktischen Drehablauf und verhandelt z.B. mit den Vermietern der Drehorte. Der Regieassistent ist nicht etwa Assistent des Regisseurs, sondern Herr über die zeitliche und räumliche Organisation von allem, was irgendwann irgendwie vor der Kamera auftauchen soll. Die beiden letztgenannten erstellen das zentrale Dokument für jeden einzelnen Drehtag, die Disposition, abgekürzt Dispo. Sie wird abends ausgeteilt, und viele lesen nur die obere linke Ecke des ersten Blattes, in der steht, wann sie am nächsten Morgen anfangen müssen. Daher hat sich in Anlehnung an den Slogan eines bekannten Nachrichtenmagazins der Spruch “Dispo-Leser wissen mehr” eingebürgert. Ein anderer beliebter Setspruch lautet “Arbeit ist die wärmste Jacke”. Wieder ein anderer “Augen auf bei der Berufswahl”. All diese Sprüche sind nachweislich richtig. Zurück zur Set-Soziologie: Der Set-Aufnahmeleiter, genannt Set-AL, kommt morgens als erster und geht abends als letzter. Er klärt, wo die Autos parken, wo man Mittagspause macht und durch welches Fenster die Beleuchter an welche Steckdose dürfen. Das klassische Praktikum am Set passiert üblicherweise bei der Aufnahmeleitung. Wenn man mal sechs Wochen lang jeden Tag Absperrhütchen durch die Gegend gewuchtet und Brötchen herumgetragen hat, kann man besser einschätzen, ob der eigene Enthusiasmus für eine Laufbahn beim Film ausreicht.
Der Kameramann ist oft eine Frau, also öfter als z.B. der Oberbeleuchter, aber weniger oft als die Maskenbildnerin. Er oder sie sagt dem Oberbeleuchter, wie er oder sie das Licht gern hätte, daraufhin schickt der Oberbeleuchter seine Jungs (selten Mädels) los, und sie holen ihr Equipment aus einem oder zwei oder auch zwanzig LKWs. Das reicht von der Taschenlampe bis zum riesengroßen 18kW-Scheinwerfer mit armdickem Stromkabel. Was die Beleuchter hingegen nie im Gepäck haben, ist ein 12 mal 12 Meter großes Segel, wie es sich im SPIEGEL-Text dramatisch losreißt und über den Köpfen der Menschen wild herumflattert. Da hat jemand Meter mit Fuß verwechselt und nicht lang nachgedacht, wie man um Gottes Willen ein 144 Quadratmeter großes Segel aufbauen oder windsicher befestigen will. Wieder eine ganz andere Abteilung ist das Szenenbild. Deren Arbeit ist schon getan, wenn das restliche Team anrückt, denn da muß das Set ja stehen, also die Wohnung eingerichtet oder die Kulisse gebaut sein. Statthalterin der Abteilung am Set ist die Innenrequisiteurin (kann auch ein Mann sein), deren Name insofern irreführend ist, als dass sie nicht nur in geschlossenen Räumen, sondern auch draußen arbeitet. Ihr Kollege, der Außenrequisiteur, ist nicht am Set, sondern halt “außen”, er besorgt die Requisiten. Die Maskenbildner haben zumeist eine Friseurausbildung und zählen damit zu den wenigen Leuten am Set, die etwas anständiges gelernt haben. Außerdem haben sie im Maskenmobil ihr eigenes Reich, in dem die Schauspieler morgens erstmal verschwinden, und die Wichtigkeit der Atmosphäre, die hier herrscht, kann man kaum unterschätzen. Die Kostümbildnerin (ich habe in dem Job noch keine Männer gesehen, aber es gibt sie) und ihre Assistentinnen suchen nicht nur die schöne Anziehsachen aus, sondern leisten Schwerarbeit, die man leicht unterschätzt, Kleidung wiegt nämlich nicht wenig, und alles, was Schauspieler am Körper tragen, wird nach Drehschluß gewaschen. Unterm Strich: Viel Schlepperei. Je nach dem Bedarf gibt es am Set dann auch noch Hundetrainerinnen, Katzenbeaufsichtiger, Stuntleute, Pyrotechniker, Automechaniker und natürlich den Caterer, der fürs Essen zuständig ist. Der ist in gewisser Weise ist er die wichtigste Person am Set. So wie jeder andere auch. Man kann nämlich auf keinen verzichten. Deswegen sind sie ja alle da.
In Hollywood ist gewerkschaftlich geregelt, wer was zu tun hat. Niemand darf einen Gegenstand anfassen, der nicht in die Zuständigkeit seiner Abteilung fällt. In Europa ist man lockerer und packt auch mal bei den Kollegen an. Ich war mal zweiter Kameraassistent bei einem Film, der auf einem Bauernhof um die vorletzte Jahrhundertwende spielte. Auf dem Hof liefen dicke weiße Hühner herum. Das waren aber moderne Hühner, daher hatten die Ausstatter zusätzlich historisch korrekte Hühner besorgt, die schlank und braun waren. Diese diversen Hühner liefen nun harmonisch gackernd durcheinander auf dem Hof herum, also mußten vor jedem Take die dicken weißen Hühner aus dem Bild und die schlanken braunen Hühner ins Bild gescheucht werden. Bei solchen Aktivitäten ist am Set jeder herzlich eingeladen, sich zu beteiligen, gern auch die Regisseurin (kann auch ein Mann sein). Die haben wir bisher noch gar nicht erwähnt. Sie sitzt irgendwo zwischen all den Leuten am Set und ist theoretisch Chef von allen. Idealerweise hat er oder sie auch mal das eine oder andere Praktikum gemacht und weiß, was die Kameraassistentinnen und AL-Assis so alles tun. Oft hat sie das aber nicht, und oft weiß sie (er) nicht so genau, was er (sie) selber will. Exzessive Drehtage von 18 Stunden entstehen leider oft dadurch, dass Regisseur/innen nicht wissen, was sie wollen. Bei Hochschuldrehs ist das im Grunde die Regel. Man muß das auch verstehen – es geht ja nicht nur darum, das im Drehbuch enthaltene Ideenpaket (wer ist wer und wer will was von wem) einigermaßen unfallfrei und verständlich ins Bild zu bringen, es soll außerdem noch ästhetisch ansprechend und künstlerisch originell sein. Und da stehen dann 30 oder 50 Leute, schauen dich an und wollen wissen, was Sache ist und ob sie heute abend pünktlich nach Hause kommen. Regie-Muffensausen ist Berufskrankheit. Ich selber wurde davon geheilt, als ich in den nuller Jahren Regieassistent bei Musikvideos war. Da verbrannte man an einem einzigen Drehtag ein fünfstelliges Budget, die Tage dauerten 16 Stunden, und der Regisseur war ein impulsiver Überzeugungstäter, der jeder spontanen Eingebung folgte und sich fortwährend im Ton vergriff. Trotzdem war es eine schöne Zeit, und es entstanden Klassiker wie z.B. das Video zu Rammstein “Amerika”, auf Youtube mittlerweile 178 Millionen mal abgerufen. Da stehe ich gegen Ende mit einem Megafon im Bild und habe längere Haare als heute. Nach diesen in jeder Hinsicht krawalligen Drehs, bei denen ich permanent kommandieren und agieren und reagieren mußte, war mir jegliche Angst abhanden gekommen, aber irgendwann war mein Bedarf an Anpflaumerei gedeckt, und außerdem wollte ich ja selber Regisseur werden, was der Firma, die die Videos produzierte, aber egal war, also ließ ich die Musikvideoregieassistenz wieder bleiben und drehte an der Filmhochschule meinen Abschlußfilm. Danach kamen Kinofilme und Tatorte und kleine Musikvideos mit viel Freiheit für wenig Geld. Sich als Regisseur anständig aufzuführen halte ich für eine Frage des Anstandes, auch wenn mir klar ist, dass ich mir mit Schreiexzessen, impulsiven Planänderungen und sonstigen Skandalen viel leichter einen Platz in der Filmgeschichte sichern könnte.
Ich mag so etwas aber auch deswegen nicht, weil ich es von der anderen Seite erlebt habe. Bei dem erwähnten Film mit den Hühnern war mein direkter Chef, der erste Kameraassistent, nämlich ein ausgemachter Depp. Ich kann das leider auch im Abstand von 25 Jahren nicht freundlicher sagen. Ich wurde jeden Tag aufs Neue angeschnauzt, gemaßregelt und runtergemacht. Ich wurde dadurch nicht etwa besser in meinem Job, sondern im Gegenteil schlechter. Man hat dauernd Angst, etwas falsch zu machen, und verliert mit dem Selbstvertrauen auch den Überblick. Der Kameraassistent, bei dem ich zuvor gelernt hatte, war auch manchmal ruppig, aber dabei immer loyal. Für ihn hatte ich gern gearbeitet. Für den danach nicht. Ich war heilfroh, als der Dreh vorbei war, aber ich fühlte mich, als hätte man mich wochenlang geohrfeigt. Dieses autoritäre Niedermachen von Untergebenen war früher am Set tatsächlich üblich, gerade in der Kameraabteilung, aber das hat mit den Jahren nachgelassen, und diese Entwicklung begrüße ich sehr. Würde ich am Set mitkriegen, wie jemand seine Leute so behandelt, dann würde ich ihn beseitenehmen und mir diesen Ton verbitten.
Was ich jedoch nicht habe und was auch Til Schweiger nicht hat: Macht, dafür zu sorgen, dass irgendjemand nie wieder einen Job kriegt. Da wird gern geraunt, da raunt auch der SPIEGEL, die Leute hätten Angst, sich zu äußern, denn Schweiger sei ja so mächtig. Verzeihung, aber das ist Blödsinn. Ein Requisiteur oder eine Garderobiere arbeitet in erster Linie ihrer Abteilung zu. Ihr Chef ist die Szenenbildnerin oder der Kostümbildner, und wenn die beschließen, dass sie ihre Mitarbeiter auch zum nächsten Dreh mitnehmen, wo beispielsweise Tom Tykwer Regie führt, dann kann auch ein Til Schweiger wenig dagegen tun, selbst wenn er es wollen würde.
Was ich außerdem nicht zu bieten habe: Wilde Geschichten von Sauf- und Drogenexzessen am Set oder nach Drehschluß. Noch nicht mal bei den verschärften Musikvideodrehs in den nuller Jahren. Es gab Drehschlußbier. Man trank eins, dann ging man nach Hause und legte sich pennen, weil man im Eimer war. Vielleicht gab es hinter meinem Rücken Orgien. Kann sein. Mir wurde ja auch nie Koks angeboten, obwohl angeblich alle immer koksen, und zwar nicht nur beim Film, sondern überall. Möglicherweise findet man im SPIEGEL keine sensationellen Berichte über Kokainkonsum in deutschen Pressehäusern, weil da jeder über sich selbst schreiben müßte. Man hört da ja immer wieder so Geschichten. Kokain verwandelt Menschen in aufgeblasene Idioten. Sie werden manisch, unzugänglich für Gegenargumente, blind für Zwischentöne. Leute auf Koks monologisieren dich zu, stellen Fragen und reden dann weiter, ohne die Antwort abzuwarten. Sie sind sich unbeirrbar sicher, sie sind größenwahnsinnig und ein bißchen paranoid. Interessanterweise paßt diese Beschreibung gut auf viele journalistische Texte aus der letzten Zeit. Ich lasse das mal so stehen.
Zurück zum Set. Wenn nun der Regisseur nicht weiß, was er will, dann wird es vor allem eins: Teuer. Überstunden müssen nämlich bezahlt werden. Und zwar vom Produzenten. Der hat dann ein Problem, das ihn im Extremfall die Existenz kosten kann. Den Regisseur feuern wäre eine Lösung, aber rechtlich nicht so einfach, und dann braucht man umgehend einen anderen, denn aus irgendeinem Grund dreht man nicht ohne Regie, obwohl es möglich wäre und oft gar nicht auffallen würde. Insgesamt sind Produzenten also nicht zu beneiden. Sie kloppen sich um das schrumpfende Auftragsvolumen der öffentlich-rechtlichen Sender, und wenn sie darauf keine Lust mehr haben, können sie zu mehr oder weniger mafiösen Bedingungen für amerikanische Streamingdienste produzieren. Es herrscht enormer Druck, es soll viel gedreht werden, es soll toll und spannend und lustig und divers und feministisch und global verständlich sein. Und natürlich wird dieser Druck nicht selten an die Filmteams weitergegeben. Die bestehen aber nicht aus Sklaven, sondern aus freien, erwachsenen Menschen, deren Dienste außerdem knapp und gesucht sind. Will man hier die Bedingungen verbessern, dann hilft keine moralische Empörung über Til Schweiger, sondern die guten alten Methoden des Arbeitskampfes: Gewerkschaftliche Organisation, Verhandlung, Druck, im Zweifelsfall auch Streik. Ich bin sehr dafür, dass alle am Set fair und gern auch fürstlich bezahlt werden. Dass ein Filmset trotzdem ein Abenteuer ist, bei dem ein Tag auch mal länger dauern kann, wenn das Gewitter sich um zwei Stunden verschiebt und der Hundetrainer sich den Knöchel verstaucht, daran wird sich nie etwas ändern, und wer sich da beschwert, dem sei gesagt: Augen auf bei der Berufswahl. Und wenn gelegentliches Jammern auch zum Handwerk gehört, so ist man doch meistens stolz darauf, zu diesem Wanderzirkus zu gehören. Man kommt herum, man sieht die Welt, man trifft interessante Leute, jeder Tag ist anders.
Damit das aber nicht gar zu harmonieselig wird, hätte ich zum Ende doch noch eine handfeste Skandalgeschichte im Gepäck. Der erwähnte Dreh mit den historischen Hühnern war nämlich nicht nur für mich, sondern auch für andere Beteiligte unerfreulich. Das erfuhr ich 17 Jahre später, als ich zufällig der Hauptdarstellerin wiederbegegnete und sie mir erzählte, dass von ihren zwei männlichen Kollegen der Jüngere sie fortdauernd ins Bett kriegen wollte und der ältere Kollege sie nach Lust und Laune mobbte. Ich hatte es damals vor lauter Selbergemobbtwerden nicht mitbekommen. Und natürlich kenne ich nur ihre Seite der Geschichte. Also Vorsicht. Aber es scheint mir kein Zufall zu sein, dass in dieser Episode nicht die Regie im Mittelpunkt steht, sondern eben Schauspieler. Diese haben am Set nämlich deutlich mehr Zeit, sich Niederträchtigkeiten auszudenken und durchzuführen. Momentan prügeln alle auf den despotischen Regisseur ein, aber ich fürchte, das Aufkommen an Machtmißbrauch, das von Schauspieler*innen ausgeht, ist unterm Strich größer. Der hier beschriebene Me-Too-Horror wäre heutzutage wohl nicht mehr denkbar – wobei ich mich auch da frage, ob prominente Darsteller, wenn sie gerade “hot” und gefragt sind, sich nicht auch heute, in Zeiten von Compliance-Regeln und “Codes of Conduct”, bedauerlich viel leisten können. Ich habe zumindest den leisen Verdacht, dass all diese Versuche, etwas zu kodifizieren, das selbstverständlich sein sollte, nämlich gutes Benehmen, am Ende nach hinten losgehen, indem sie ein Klima von Angst und Petzerei schaffen, das vor allem dem Team die Arbeit vergällt, während ein paar überbezahlte Starflachpfeifen sich weiterhin nach Lust und Laune aufführen können, wie sie wollen. Und ich werde auch den Verdacht nicht los, dass ein guter Teil der Empörung, die ausgekippt wird, wenn es mal wieder jemanden erwischt hat, aus Freude darüber besteht, dass es einen nicht selbst erwischt hat. Das ist nur so ein Gefühl, aber wir wissen doch schließlich alle, wie die beim Film so drauf sind.
Schlechte Filme haben etwas von Propaganda. Sie zwingen jede Figur und jede Szene in den Dienst einer Message. Gute Filme können Widersprüche und Zwischentöne aushalten und geben jeder Figur ihr eigenes Leben. Bei journalistischen Texten ist es so ähnlich. Man kann offen in die Welt hinausspazieren und sie sich von verschiedenen Seiten anschauen. Oder man kann mit einer Agenda losziehen und Beweise dafür suchen. Der SPIEGEL-Text, um den es hier geht, scheint mir zur zweiten Sorte zu gehören. Selbst wenn faktisch alles stimmt, was da steht, bleibt es dennoch ein von Autoren geschriebener Text, der nicht mit objektiv vorhandener Wahrheit verwechselt werden sollte. Er rührt drei verschiedene Themen zusammen (Alkoholismus, Arbeitsbedingungen, Machtmißbrauch), er generalisiert Einzelereignisse zu Belegen für seine Kernthese, die er nirgends hinterfragt, er läßt garantiert auch einiges weg, das ihm nicht in den Kram paßt, das machen Journalisten nämlich besonders gern, und er tut damit genau das, was ein schlechter Film auch tut. Ich wünsche mir mehr Medienkompetenz, auch von unserer Kulturstaatsministerin, ich habe nämlich ein höchst ungutes Gefühl, wenn Repräsentanten der Staatsmacht Haltungsnoten an einzelne Künstler austeilen. So etwas hat in einer Demokratie nichts zu suchen. Kultur war in Westdeutschland nicht von ungefähr Ländersache, der Bund hatte da nichts zu melden. Die DDR hatte gewiss nicht nur schlechte Seiten, aber Kulturstaatsminister, die hämisch über Kulturschaffende herziehen, nachdem diese in der Presse zum Abschuß freigegeben wurden, hatten wir dort schon und brauchen wir nicht wieder. Ich sollte als Regisseur am Set auch nicht über einzelne Leute herziehen, egal was diese verbrochen haben. Ich sollte noch nicht mal vor versammelter Mannschaft ein Urteil fällen. Öffentliche Verurteilung einzelner Grupenmitglieder aus einer Machtposition heraus ist nämlich auch schon Mobbing. Mit anderen Worten: Machtmissbrauch. Und den wollen wir nicht, da sind wir uns doch alle einig. Sei nett am Set, mißtraue den Klischees und halte dich fern von Massenhysterien. Mit dieser Haltung bin ich bisher gut gefahren und gedenke das auch weiter zu tun.
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