Berlinale, Tag 6 – Früher war alles früher

Alles ist in den letzten Jahren unglaublich angeschwollen beim Film. Nicht finanziell, im Gegenteil. Auch die Leute selbst, zumindest in meinem Umfeld, sind nicht wahrnehmbar dicker geworden. Aber die Gesamtmenge an Filmen, die ist angeschwollen. Tausende Filme (und acht Milliarden Kurzfilme) werden produziert, tausende von Festivals verteilen sich übers Jahr, für jedes Festival arbeiten nicht etwa tausende, sondern vergleichsweise wenige Leute, die sich Monate im Vorfeld durch die tausenden eingereichten Filme wühlen und ackern und schuften und wie in einem riesengroßen Heuhaufen nicht nach einer Stecknadel suchen, sondern nach einer ganz bestimmten Sorte von Grashalm, was bedeutet, daß man jeden einzelnen Halm ganz genau angucken muß. Es ist ein Job, den ich niemals machen könnte. Selbst wenn man die Filme bei Desinteresse nach einer Vierstelstunde herauswirft, was man natürlich tut, bleibt es eine Siysphosarbeit mit Tantalusqualen und der Frage, ob man jetzt wirklich das richtige herausgefischt hat. Man kennt ja diese Geschichten von Börsenprofis, die gegen einen Affen antreten, und am Ende hat der Affe sein Geld besser vermehrt als die Experten. Ähnlich macht es das „Random Film Festival“. Aus genau diesem Gefühl heraus, daß man der Flut des Filmschaffens mit so etwas wie „Auswahl“ nicht mehr beikommen kann, stellt dieses Festival sein Programm per Zufall aus den eingereichten Filmen zusammen und verleiht auch die Preise per Zufallsgenerator. Sogar Ort und Termin des Festivals werden ausgewürfelt. Ich war nie da, aber es muß eine tolle Veranstaltung sein. Für mich ist die Berlinale aber ohnehin eine Art Random Film Festival. Unmöglich, sich angesichts der Katalogtexte einen Reim zu machen, also guckt man irgendwas oder geht einfach nach Namen: Leute, die man schon mal gut fand, und Filme von Freunden. Der Rest ist Zufall und Retrospektive. Retro geht immer. Alte Filme sind sogar dann interessant, wenn sie eigentlich schlecht sind.

Heute ergibt sich für mich ein Retrospektivag, also eigentlich gestern, aber ich schreibe mal weiter in der Gegenwartsform. Darf man das als „Abschied von Gestern“ bezeichnen, wenn man das Gestern einfach als Heute umetikettiert? Oder wie hat Alexander Kluge das gemeint? Spricht es nicht Bände, daß meine Generation (also ich, aber es fühlt sich so toll an, „meine Generation“ zu sagen) der inhaltlichen Dringlichkeit der damaligen Generation nichts als solche postmodern-hohlen Sprachspiele entgegenzusetzen hat? Hat man nicht eigentlich die Verpflichtung, sich so quer wie nur möglich gegen die eigene Generation zu stellen, denn Kind seiner Zeit ist man ja sowieso schon, aus der Nummer kommt man im Leben nicht raus? Schweife ich ab? Ist der deutsche Film noch so toll wie damals? Damals, ja damals, da konnte man noch, da war man noch ein toller Kerl. Mein Verhältnis zu den Helden alter Tage ist zwiespältig: Wenn Leute in epischer Breite Anekdoten zum besten geben und wenn die Anekdoten am Ende nur noch aus den Namen längst vergessener Produzenten und Redakteure und Kritiker bestehen und wenn die Länge der Anekdote ins Endlose ausufert und die Fallhöhe der Schlußpointe im umgekehrten Verhältnis dazu schrumpft und das ganze dann noch im selbstgefälligen Altherrentonfall stattfindet und auf einer Bühne vor einem Auditorium, aus dem zu fliehen jetzt wirklich übelster Affront wäre, dann schaue ich in meine eigene Zukunft und rufe voll Schrecken aus: Dietrich, mir graut vor dir! Es gibt aber auch Leute, die ganz genauso auf denselben Bühnen stehen und von früher erzählen, und man will sie einfach nur liebhaben. Beim Preis der deutschen Filmkritik wurde ein Ehrenpreis an Joachim von Mengershausen verliehen. Das war so einer. Den wollte ich aus dem Publikum heraus mit zehn Meter langen Armen umarmen und habe ihn beneidet um seine Vergangenheit.

Alte Filme sind immer ein Blick auf die andere Seite, sie sind die fünfte Dimension unserer zweidimensionalen Kunst (die vierte ist natürlich der Ton, und die dritte ist natürlich 3D), sie sind ein Bick in eine andere Zeit, in andere Denkstrukturen, das finde ich ganz ganz ganz toll und könnte es mir tage- und wochenlang „reinziehen“, wie die Jugend es heute formuliert. Ein toller Zehnminüter von Michael Klier, in dem ein junger Mann über seine Autoleidenschaft räsoniert und wie das mit der Zuneigung der Damenwelt zusammenhängt und ob die reiche Tante nach dem Jaguar möglicherweise auch noch einen Ferrari finanzieren wird. Ein toller Animationsfilm, in dem ein Mann zwischen zahlreichen Linien eine Maschine baut, was als politische Parabel gemeint ist, die sich mir aber erst nach Lektüre des Begleittextes erschließt. „Katz und Maus“ von Hansjürgen Pohland, Günter-Grass-Verfilmung, in der Hauptrolle die beiden anderen Söhne von Willy Brandt, ziemlich sperrig und ziemlich lustig und von einer Freiheit des Denkens und Bildererfindes, die mich weghaut. Und die Macher dieser Filme, die sind alle eine ganze Ecke jünger als ich. Wenders drehte „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“ mit 25 Jahren, also in einem Alter, in dem man sich heute an der Filmhochschule bewirbt. Godard war bei „Außer Atem“ 31. Früher war alles früher.

Abends ist dann der zweite Teil meines privaten kleinen Nostalgie-Festivals. Der Kameramann des eben erwähnten Animationsfilms lädt zum Abendessen. Der heißt nämlich Heinz Badewitz und schmeißt jedes Jahr zur Berlinale einen Abend in einer Weinhandlung im Westend, wo die Veteranen nur so herumwuseln, stundenlang könnte man jetzt namedroppen, ich droppe aber nur ein paar names, zum Beispiel Thomas Mauch, der Kameramann, der mit Werner Herzog das sagenumwobene Schiff über den ebensolchen Berg zog. Der ist immer da und ist das Gegenteil der oben beschriebenen Altherrenanekdotenschleuder, der ist trocken und knapp und lustig. Und dann meine ganz persönlichen Helden: Erika und Ulrich Gregor. Die waren schon immer dabei. Die haben alles miterlebt. Die stecken so voller toller Anekdoten (denn ich bin ja kein prinzipieller Feind der Anekdote, genausowenig wie ich ein Feind der Filmkunst bin), da sitzt die personifizierte Geschichte vor einem, die haben noch Sachen erlebt, zum Beispiel den Kulturattaché der deutschen Botschaft in Paris oder sonstwo, der bei Schlöndorffs „Der junge Törless“ empört aufstand und rief: Das ist kein deutscher Film! Oder irgendein anderer Diplomat, der zu Ulrich Gregor sagte: Ich würde sie jetzt ja zum Duell fordern, aber leider sind Sie nicht satisfaktionsfähig! Oder die frühen Tage des Berlinale-Forums, als man endlos diskutierte und im Zweifelsfall den Film ein zweites Mal sichtete. Ich, also meine Generation, also ich würde gern das gesamte erlebte Wissen dieses wunderbaren Paares irgendwie herunterladen und für die Nachwelt retten. Im „Schnitt“ hatten die Gregors mal eine Kolumne, die nur aus Anekdoten bestand, aber ach, der „Schnitt“ ging auch den Bach herunter, genau wie die Kudamm-Kinos und der Royal-Palast und 35mm und überhaupt alles und demnächst auch wir selbst, es ist so schlimm und schrecklich. Nostalgie ist andererseits völliger Mist, denn die Zeit, die man selber damit verbringt, in Nostalgie zu schwelgen, die ist ja in doppelter Hinsicht verloren, an die kann man sich später nämlich noch nicht mal nostalgisch erinnern. Ach, was waren wir damals nostalgisch, weißt du noch, im Jahr 1998, als wir von den guten alten 70er Jahren schwärmten? Eben, völliger Quatsch.

Ich bin jetzt, am folgenden Morgen, da ich den Abschied von gestern unter anderem darin zelebriere, daß ich diese Worte auf einem (auch schon wieder fünf Jahre alten) Laptop schreibe und nicht auf einer Triumph-Adler-Olivetti-Olympia, trotzdem schon wieder nostalgisch, und zwar in Bezug auf die allerjüngste Vergangenheit, also den gestrigen Abend. Das letzte Bild, das in meinem Kopf bleibt, ist die Silhouette des Ehepaars Gregor, wie sie nachts um zwei die Straße hinuntergehen, allmählich weg von unserer Gruppe, mit den langsamen Schritten, die man macht, wenn man schon seit 83 Jahren auf diesem Planeten wandelt. Eine Straßenlaterne wirft ihren Schatten zu uns hin, und je näher sie der Laterne kommen, desto größer wird der Schatten. Es sieht schon wieder aus wie ein Filmbild. Die beiden werfen ihren Schatten nicht voraus, sondern ziehen ihn hinter sich her, ein Schatten aus Jahrzehnten voller Geschichten und Menschen und längst und gefeierten und vergessenen Filmen, die wie stumme Schatten immer noch in irgendwelchen Archiven liegen, bis irgendjemand sie vielleicht eines Tages wieder herausholt und in den Projektor einlegt und das Licht ausgeht und die Schatten zum Leben erwachen.

Ach, wäre das ein tolles Ende für einen tollen Text, der Herzen öffnet und Emotionsfeelings abruft! Wie herrlich wäre es! Geneigter Leser, Sie können jetzt hier eigentlich aufhören, dann nehmen Sie wenigstens ein warmes Herz mit in die kalte Welt und schätzen mich für meine Menschlichkeit.

Immer noch da?

Okay, selber schuld. Es gibt nämlich leider noch das krasse nostalgiefreie Kontrastprogramm, auf genau derselben Veranstaltung, zwei Tische neben den großartigen Gregors. Eine geschätzte Regiekollegin schilt und schmäht mich für meine öffentliche Beschreibung des sogenannten „Lolasaufens“. Ich zeihe sie im Gegenzug der Humorlosigkeit. Mache ich natürlich nicht, ich weise nur darauf hin, daß man dann dem „Random Film Festival“ dieselben Vorwürfe machen könnte. Oder sogar den Berlinale-Sichtungsleuten, die garantiert nicht jeden Film bis zum Ende gucken. Was für eine Respektlosigkeit den Filmen gegenüber! Und den beteiligten Einzelleistungen! Nee, so schlagfertig bin ich leider auch nicht. Ich lande doch wieder bei der Humorlosigkeit. Das ganze ist doch erstens eine Parodie auf Auswahl- und Bewertungsprozesse, eine karnevalistisch-ausgelassene Feier dessen, was eigentlich verboten ist. Und darin ein Gegenmodell zum staatstragenden Ernst der Akademie, zum Durchdrungensein von der eigenen Bedeutung. Gelegenheit macht Diebe, und Pathos macht Verarschung, das sind nun mal zwei Naturgesetze. Und schließlich ist es ohnehin der Modus, in dem fast alle es machen. Zumindest weiß ich nicht, wie die Leute 30 ganze Filme in ihren ohnehin vollgepackten Alltag quetschen wollen. Jeder kickt halb geguckte Filme raus, keiner gibt es zu, aber wenn es einer zugibt und es dann sogar noch mit kreativem Mehrwert in ein lustiges Ritual verwandelt, dann muß man den natürlich aufs schärfste kritisieren. Und dann heißt es noch, ich würde mich selber drüberstellen oder rausnehmen. Da erblicke ich mal wieder eine Wortspielsteilvorlage, denn rausnehmen muß ich mich aus der Kiste nun wirklich nicht, und auch das, was gemeint ist, ist falsch, denn ich nehme mich nirgendwo raus. Jeder kann sich in meinen Filmen so langweilen oder empören, wie er will, und sie nach zwei Sekunden empört in die Ecke pfeffern. Jeder darf mit meinem Gesamtwerk Brüggemanngesamtwerksaufen spielen. Das fände ich sogar ziemlich lustig. Ja, ich fände saulustig, und zwar mit gänzlich reinem Herzen, ohne Koketterie, Tand und Eitelkeit. Soviel gesunde Distanz zum kläglichen eigenen Streben muß man als souveräner Mensch doch haben. Wenn ich die Akademie wäre, dann fände ich auch das Lolasaufen sehr lustig und würde es in den ständigen Veranstaltungskalender übernehmen. Na gut, letzteres vielleicht nicht, aber soviel gesunde Distanz zu sich selbst muß man als souveräne Institution doch haben. Wenn nicht, dann auweia.

Uff, immer diese hammerschweren Themen. Weg damit. Zurück zu Nostalgie. War schön jewesen jestern. Wird heute wieder schön. Und jetzt mal ab ins Kino.

 

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