Berlinale 2025, Tag 1: Tricia Tuttle heißt nicht Harry und Tilda Swinton ist gegen irgendetwas.

Mein Berlinale-Blog geht ins soundsovielte Jahr, und allmählich verliere ich den Überblick, was ich wann schon einmal geschrieben haben könnte, also schreibe ich diesmal die Jahreszahl in den Titel, damit man sich besser zurechtfindet. Ansonsten alles mehr oder weniger wie immer. Viel Spaß.

Meine Berlinale beginnt mit einer interessanten Erfahrung. Vor sehr vielen Jahren setzte ich mir eine Mütze auf den Kopf, also keine gestrickte, sondern so eine mit Schirm, und fand das Resultat vor dem Spiegel visuell ansprechend. Außerdem mußte man sich keine Gedanken mehr über Frisur oder derartiges machen, außerdem ist so ein Schirm bei tiefstehender Sonne sehr praktisch, und außerdem ist er noch viel praktischer, wenn man bei kaltem Wetter Fahrrad fährt und sich zu diesem Zwecke eine Kapuze überzieht, denn beim Radfahren muß man sich ja oft nach hinten umschauen, aber wenn man sich mit Kapuze umschaut, dann schaut man oft einfach in die Kapuze hinein, da die Kapuze die Drehung des Kopfes nicht ohne weiteres mitmacht. Der Schirm einer Mütze löst dieses Problem, und da ich sämtliche Strecken mit dem Fahrrad zurückzulegen pflege, sofern ich nicht gerade ein Klavier transportieren muß, begab es sich, dass ich einfach immer mit dieser Mütze herumlief. Leider aber wird so etwas dann zum Markenzeichen, und das finde ich leider ausgesprochen dämlich, wenn Kulturschaffende immer irgendetwas unvermeidbares an sich dranhaben, weil es halt ihr Markenzeichen ist, worüber Journalisten dann schreiben können, dass der Herr Lindenberg ja immer mit dem unvermeidlichen Hut oder der Sänger von AC/DC immer in seiner unvermeidlichen Schuluniform unterwegs ist Daher beschließe ich heute, ohne Kopfbedeckung zur Berlinale-Eröffnung zu gehen. Tempelgebäuden, in denen Gottheiten angebetet werden, hat man sich ja ohnehin barhäuptig zu nähern und beim Betreten rituelle Handlungen durchzuführen.

Die rituelle Handlung beim Betreten von Filmfestivitäten besteht darin, sich auf dem roten Teppich fotografieren zu lassen. Man wird beim Namen gerufen oder auch angeschrieen, posiert und macht irgendwas. Meine Haltung dazu ist indifferent. Ich finde es weder schrecklich noch toll. Heute aber, ohne Mütze und zudem im unauffälligen schwarzen Anzug, bin ich komplett unsichtbar. Kein Fotograf schreit meinen Namen. Auch interessant. Eigentlich sogar besser. Vielleicht bleibe ich dabei. Oder komme morgen wieder im Muskelshirt und mit Federboa.

Heute wird die neue Berlinale-Chefin feierlich inauguriert. Sie heißt Tilda Swinton. Letzteres ist eine gefährliche Falschinformation und muß bitte sofort als solche gekennzeichnet und bestenfalls auch gelöscht werden. Sie heißt vielmehr Tricia Tuttle und trägt damit denselben Namen wie der von Robert De Niro gespielte Untergrundklempner in Terry Gilliams Film “Brazil” von 1985, der mich umgehauen hat, als ich 20 war, und den ich bis heute feiere wie kaum einen anderen Film. Zumindest trägt sie denselben Nachnamen, sonst würde sie mit Vornamen Harry heißen, und auch das wäre eine gefährliche Falschinformation, gegen die ich mir ein entschlossenes Vorgehen von staatlicher Seite wünsche, denn Falschinformationen im Internet gefährden unsere Demokratie.

Um unsere Demokratie geht es bei der Eröffnungsgala nur am Rande. Ich hatte mich auf eine solide 80-Minuten-Breitseite aus Politiker:innengrußworten eingestellt, aber irgendwie hat Tricia Tuttle, die nicht Harry heißt, einen Weg gefunden, dieses Element, das kein Mensch braucht und niemand hören will, einfach wegzulassen. Daher ein Kompliment an die neue Chefin. Vielleicht hat sie mit der Länge des Eröffnungsfilms argumentiert, der solide 160 Minuten dauert, wie Tom Tykwer, als er die Bühne betritt, so ganz nebenbei fallenläßt, und er klingt dabei ein bißchen wie ein Vater, der selber ganz erstaunt ist, was sein Kind für eine große Sandburg gebaut hat. Jedenfalls geht bei dieser Information, so scheint es mir zumindest, ein stilles kollektives nach-Luft-Schnappen durch den Raum.

Berlinale-Eröffnungsfilme sind wie fast alles im Leben manchmal gut und oft grauenvoll. Vornehmster Zweck eines Berlinale-Eröffnungsfilms ist: Stars. Egal wie und woher. Das hat dann schon zu Katastrophen geführt wie beispielsweise einem Film namens “Snow Cake”, in dem Sigourney Weaver eine Person mit geistiger Behinderung spielt, die einen Kuchen aus Schnee backt, der daraufhin im Eisfach aufbewahrt werden muß, damit er sich hält, wenn ich mich recht erinnere. Dieser Film war grauenvoll, auf den heutigen hingegen freue ich mich, denn egal, wie er ist, er ist auf jeden Fall besser als letzterer.

Vorher aber: Bierchen. Oder Wässerchen. Oder auch nicht, denn die Bar im Erdgeschoß hat seit 18:15 Uhr zu und schenkt nichts mehr aus. Gehen Sie nach oben, da gibt’s noch was. Die Bar oben hat dann aber auch nichts mehr. Na dann halt nicht. Oder doch, denn die Bar im Erdgeschoß verrät mir beim zweiten Anlauf, dass die Bar im zweiten Stock bis 18:30 ausschenkt. Sinn der Übung ist, dass die Leute den Saal betreten, anstatt sich stundenlang draußen zu betrinken. Das ist bestimmt sehr sinnvoll, und ich frage mich, wer sich das ausgedacht hat: Man schickt die Leute, die im Parkett sitzen sollen, erstmal zum Bierholen rauf in den zweiten Stock, damit sie dann pünktlich wieder runtergehen. Noch sinnvoller wäre eigentlich nur, die Getränke im Saal auszuschenken, aber das geht irgendwie nicht, wir sind ja schließlich nicht im Kino, wo jeder mit einem Bier in der Hand sitzt und sich berieseln läßt.

Mich erkennt weiterhin keine Sau, aber ich muß auch öfter mal zweimal hinschauen, denn alle, die ich kenne, sind im Zeitraffer gealtert. Ehemals jugendfrische Filmhochschulabsolvierthabende schleppen sich gebeugt am Stock einher, wirre graue Strähnen im Gesicht, gichtgekrümmt zitternde Hände umklammern Sektgläser, dünne Greisenstimmen sagen auf die Frage nach dem Befinden “muss, wir machen einfach immer weiter, haben jetzt wieder drei Projekte hier und da und noch woanders zu Förderung eingereicht” und klingen dabei wie Loriot als Opa Hoppenstedt.

Vermutlich ist es hier geboten, von anderen auf sich zu schließen, also muß ich davon ausgehen, dass ich selbst auf mein Umfeld ganz genauso wirke: Steinalt, gramgebeugt, Parkinson im Frühstadium, Altersstarrsinn, Wortfindungsstörungen. Ich treffe auf den geschätzten Regiekollegen Jan Schomburg, der exakt am selben Tag im selben Jahr zur Welt kam wie ich, und schlage ihm vor, nächstes Jahr gemeinsam 100. Geburtstag zu feiern. Seine Reaktion ist ein wenig zögerlich, vermutlich befürchtet er angesichts meines rapiden Verfalls, dass ich diesen Gebuststag gar nicht mehr erreichen werde und er dann die Bürde der hundert Jahre ganz allein schultern muss.

Wir werden in den Saal gebeten. Man soll um 18:45 Uhr seine Plätze eingenommen haben. Dann dauert es noch ca. 38 Minuten und dann geht es los. Desiree Nosbusch moderiert und sagt wohlgesetzte Worte über das Filmfestival als Ort der Begegnung mit anderen Weltbildern oder Meinungen und als Gelegenheit zum Gedankenaustausch und Zuhören und so weiter. Und ich mache es jetzt mal kurz und bin so frei: Natürlich ist das völliger Bullshit. Und man kann es förmlich spüren, wie hinter den Kulissen mit zusammengebissenen Lippen und knirschenden Zähnen gebibbert und gebetet wird, dass um Himmels Willen niemand irgendetwas konkret Politisches sagt, vor allem nicht Tilda Swinton, denn dann wäre der Abend augenblicklich gelaufen, im Eimer, am Arsch, perdü, kaputt, in Scherben, nicht mehr zu retten, Totalschaden.

Der sogenannte Nahostkonflikt ist mir persönlich keineswegs egal, aber solange ich zu diesem Thema nicht mindestens 50 Bücher gelesen, fünf Jahre dort gelebt und gute Freunde auf beiden Seiten habe, solange werde ich die Welt nicht mit einer Meinung dazu behelligen. Das tun schon genügend andere. Mein persönlicher Eindruck ist, dass mir da seit zwei Jahren auf jeder Schulter jeweils eine dick aufgeplusterte PR-Agenturkrähe sitzt, die mir mit ohrenbetäubender Lautstärke ins Ohr schreit, worüber ich jetzt entrüstet und empört zu sein habe. Die britische Kulturszene ist bekanntlich stramm pro Palästina, der deutsche Staat hingegen stramm pro Israel, man kann also mutmaßen was Tricia Tuttle, die weiterhin nicht Harry heißt, und Tilda Swinton, die weiterhin nicht Festivalpräsidentin ist, jetzt vielleicht gern verkünden würden (oder auch nicht, immerhin hat Tuttle im Lauf des Abends schon Israel als eins von vielen Ländern ganz normal erwähnt, was ja für manche Leute schon ein Skandal ist), wenn mamn jedenfalls wenn man die Eröffnungsredenrhetorik beim Wort nähme, dann könnte das doch ganz wunderbar ablaufen:

–Ich bin übrigens der Meinung, dass der Genozid im Gaza-Streifen ein Genozid ist und somit ein Menschheitsverbrechen und übrigens außerdem ein Genozid.
–Oha, interessanter Gedanke! Da gibt es sicher gute Argumente, aber ich tendiere eher zur Aufassung, dass die Hamas eine Mörderbande ist, die übrigens mit David Cunio, Hauptdarsteller des Panorama-Beitrags “Youth” von 2013, auch jemanden mit Berlinale-Verbindung seit nunmehr über zwei Jahren als Geisel gefangenhält, was hier aber offenbar keinen interessiert.
–Mensch, da sind wir ja durchaus unterschiedlicher Meinung, aber ist es nicht toll, dass wir hier einen Ort des freien und offenen Austauschs gefunden haben?
–Ja! Lass uns das feiern und weiter debattieren!

Dieses Gespräch wird nun leider überhaupt gar nicht stattfinden. Man könnte das zum Anlass nehmen, die eigene Rhetorik kritisch zu hinterfragen. Natürlich sind staatstragende Weihezeremonien wie die Berlinale eben gerade kein Ort des Diskurses, sondern Orte, an denen die jeweils herrschende Ideologie gefeiert und manifestiert wird, und an denen allenfalls eine Diskurssimulation innerhalb eng gesteckter Grenzen stattfindet. Das fällt nur meistens keinem auf, denn wenn man selber drinsteckt, ist Ideologie so unsichtbar wie Wasser für den Fisch. Aber der interessante Vorgang der letzten Jahre ist doch, dass die herrschende Ideologie bis zum Zerreißen gespannt wurde und dann irgendwie zerbrochen ist. Erst Corona, wo eine grandiose Absurdität auf einmal wie ein 16-Tonnen-Gewicht vom Himmel fiel, da waren anfangs nur sehr wenige anderer Meinung. Dann der Ukraine-Konflikt, in dem schon deutlich mehr Menschen sich weigerten, das plötzlich ausbrechende Kriegsgeschrei mitzumachen, und dafür in der öffentlichen Meinung immer noch scharf sanktioniert wurden. Und schließlich Israel/Palästina, wo der Staatsmachtkomplex des sogenannten westlichen Welt, also des amerikanischen Imperiums, mit erheblicher Diskursmacht klar für Israel ist, hingegen die Intellektuellen- und Kunst- und Onlinewelt mit ebenfalls erheblicher Diskursmacht zu Palästina tendiert. Wir stecken in einer Cancel-Culture-Zwickmühle. Zwei Boxer haben sich im Clinch verbissen und kommen nicht mehr raus aus der Nummer, und jeder hofft insgeheim, dass das Problem irgendwie von selbst erschwindet, und schreit währenddessen “Antisemit” beziehungsweise “Genozid”.

Edward Berger hält also eine Laudatio auf Tilda Swinton und sagt, dass sie auf den Vornamen “Tilda” kraft ihrer Starpower quasi ein weltweites Monopol innehat. Da möchte ich aufspringen und widersprechen, denn es gibt da noch die Zeichentrickserie “Tilda Apfelkern”, der man nicht entkommt, wenn man Kinder in einem gewissen Alter hat, und die dann deutlich mehr Raum im eigenen Kopf einnimmt als Tilda Swinton. Das lasse ich lieber, obwohl es nichts zum Nahostkonflikt und somit eigentlich harmlos wäre. Dann kommt Tilda Swinton und hält eine feurige Rede über ich weiß nicht was genau, ich habe da ein gewisses Phantomgefühl, so als würde sie in einem flammenden Plädoyer den Namen des Angeklagten weglassen, aber vielleicht ist das nur mein Gefühl.

Dann also der 160-Minuten-Eröffnungsfilm von Tom Tykwer. Danach Party. Auf der Treppe treffe ich eine Produzentin, die sagt, sie sei irgendwann aus der Werbung weggegangen, weil da die Kunden jedes Detail diktiert hätten, und zum Spielfilm, und dort sei es jetzt mit Netflix & Co genau so. Ich für meinen Teil habe gerade den größeren Teil eines Films komplett ohne Geld abgedreht, ein paar Tage fehlen noch, und es war die beste Erfahrung seit sehr langer Zeit, einen Film einfach zu machen, ohne zwanzig Gremien und Sender und diesen ganzen ungeheuren Apparat, durch dessen Entscheidungsdschungel man jedesmal jahrelang watet wie durch Sirup, um Erlaubnis zu fragen. Ob das ein nachhaltiges Modell für den Rest meines Berufslebens ist, vermag ich nicht zu sagen, aber dennoch ende ich hiermit auf dieser positiven Note. Morgen mehr, wenn etwas Erwähnenswertes passiert.

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