Schon wieder alles vorbei. Fazit: Diesmal kaum Filme geguckt, aber ein paar gute waren dabei. Im Gedächtnis bleiben mir vor allem ein paar Dokumentarfilme. Wer Dokumentarfilme macht, hat meine volle Bewunderung. Die widmen sich jahrelang mit stiller Beharrlichkeit ihrem jeweiligen Thema, jonglieren mit den Launen der Welt und der Leute, sitzen dann wiederum jahrelang mit hunderten Stunden Material im Schneideraum, das ganze außerdem in einem Umfeld, in dem Dokumentarfilme immer schwieriger zu finanzieren sind und immer öfter schon im Vorfeld ein „Drehbuch“ verlangt wird, was wie ein schlechter Witz klingt, aber leider nicht so gemeint ist.
Aus diesen und anderen Gründen mache ich keine Dokumentarfilme, aber ich hätte da einen, den mal jemand machen müßte. Nur zwei Steinwürfe vom Potsdamer Platz entfernt gibt es nämlich einen dieser Orte, die in Berlin eigentlich längst alle plattgemacht wurden: Ein Hof voller Garagen und Baracken, in jeder Garage sitzt jemand und schraubt an Autos herum, sie kommen aus vielen Ländern und haben viele Spezialisierungen, da gibt es Zylinderkopf-Uli und Vergaser-Ede, Hassan den Lackierer, Adel aus Senegal, Cesar aus Chile, und es herrscht keineswegs harmonisches Multikulti, es ist eigentlich dauernd Streit, jeder steht jedem im Weg, der eine redet nicht mehr mit dem anderen, abends kommen zwei Pferdekutschen und nehmen irre viel Platz weg, und der Pächter vons Janze, der jeden Monat die Miete einsammelt, sieht aus wie hundert Jahre Knasterfahrung. Es wäre eine wunderschöne Langzeitdoku, aber bis die einem alle vertrauen, müßte man schon ein halbes Jahr mit jedem abhängen. Wer also diesen Film machen möchte, möge sich melden, ich kann ihm oder ihr die wichtigsten Protagonisten vorstellen und freue mich dann aufs Endergebnis, vielleicht so auf der Berlinale 2025 oder 26.
Gute Dokfilme von der Berlinale 2019, also, beispielsweise: „Berlin Bouncer“ von David Dietl, ein Dokumentarfilm über Türsteher vor Berliner Clubs. Wie jeder gute Dokumentarfilm guckt er einfach hin, läßt die Leute reden und schneidet mit sicherem Gespür einen hochinteressanten Film daraus. Auch ganz toll: „Erde“ von Nikolaus Geyrhalter. An sieben Orten auf der ganzen Welt schaut er zu, wie Menschen mit riesigen Maschinen die ganze Erde umgraben. Die Bilder, die er findet, sind beeindruckend und bedrückend und majestätisch und erhaben. Solche Filme könnte ich mir wochenlang angucken. Schon Geyrhaltes letztes Werk „Homo Sapiens“ fand ich so schön, daß es in mir ein Spielfilmprojekt inspiriert hat, das seitdem als Drehbuch herumliegt und nicht finanziert wird.
Außerdem: „6Minuten66“ von Julius und Katja Feldmeier. Da spiele ich selber mit. Nein, ich spiele nicht, oder doch, ich spiele, aber nur mich selber, oder nein, ich spiele eine Version von mir selber, die ich gern wäre, oder so ähnlich. Wim Wenders hat im Jahr 1982 berühmte Filmemacher mit einer laufenden Kamera in einem Hotelzimmer alleingelassen, um über das Kino zu reflektieren, wobei die Versuchsanordnung ja selber schon eine Reflektion übers Kino ist. Bei Wenders waren es unter anderem Fassbinder, Antonioni, Spielberg, Herzog, Godard, bei Feldmeiers im Jahr 2018 waren es Lass & Lass, Ranisch, Qurbani, Gebbe, Stuber, Schwochow, meine Wenigkeit und einige andere. Damals also Weltklasse, heute die jüngere Hälfte der deutschen Filmszene, aber ich habe starke Zweifel, ob irgendjemand damals unterhaltsamer war, als die Lass-Brüder oder auch Axel Ranisch es in diesem Film sind. Der Fragenzettel, mit dem man im Zimmer alleingelassen wurde, handelte vom Tod des Kinos, vom Ansturm neuer audiovisueller Erzählformen und so weiter. Ich versuchte damals zunächst irgendwas sinnvolles zu sagen, stellte dann fest, daß mir nichts sinnvolles einfiel, mir aber auffiel, daß ich in einem obszön teuren Hotelzimmer im Herzen von Kreuzberg saß, also legte ich Hand an die Kamera, schwenkte sie nach draußen auf den Oranienplatz und fragte mich und die Welt, was das alles soll.
Der Film ist jetzt also fertig und hat Premiere, tags drauf gibt es eine Podiumsdiskussion zum selben Thema. Ich lege ja enormen Wert auf Pünktlichkeit, kriege es aber selber hin, eine halbe Stunde zu spät zu erscheinen, wühle mich durchs Publikum zum Podium, setze mich auf selbiges und sage: Stirbt das Kino, stirbt die Kunst, ich kann es nicht mehr hören, das ist mir alles zu konservativ, erstens ist das Theater auch nicht gestorben, zweitens kommt immer was neues, wenn was altes stirbt, drittens ist die neue Kunst oft ein Schlag ins Gesicht der alten, irgendwelche ungewaschenen Halbstarken spielen E-Gitarren mit übersteuerten Verstärkern, daß es den Erwachsenen graust, 50 Jahre später sind die Halbstarken von damals die konservativen Säcke von heute, die ihren einstmals rebellischen Geist schon längst unter hirntoten Fachsimpeleien über 7000€ teure Stratocaster oder Marshall-Amps begraben haben, und die finden es dann grauslich, daß die Jugend nur noch Geräte mit blinkenden Knöpfen drückt, wo Beats rauskommen. Und wenn das Kino stirbt, dann vielleicht deswegen, weil die Filme selber zu konservativ geworden sind? Sind sie im konventionellen Sinne natürlich nicht, die meisten Filme geben sich progressiv, auch hier auf der Berlinale, aber meistens werden doch da sehr klare Sympathieschemata bedient, ich muß nicht lange nachdenken, was ich gut zu finden habe, und das nenne ich konservativ. Das reißt mich selten vom Hocker. Dafür gehe ich abends nicht aus dem Haus. Ich will im Kino das verbotene, finstere, überraschende, lustige, den Exzeß, die Feier, den Schlag ins Gesicht. Ach, und die Jugend von heute mit ihren Smartphones, die ist übrigens auch gar nicht so schlimm. Ich habe ab und zu mit Schulklassen zu tun, und die sind meistens sehr aufgeschlossen und interessiert an der Welt. Das war zu meiner Schulzeit schon so, einige fand ich ziemlich stumpf, die allermeisten voll okay, ein paar einzelne richtig toll, das ist heute noch ganz genauso, the kids are alright, hört mal auf zu meckern, ihr kulturpessimistischen Wohlstandsrentner.
Hinterher sagt mir eine, die im Publikum saß: Du warst voll aggro.
War ich?
Verdammte Scheiße! Aber dann ist das so! Lieber aggro as depri! Ich kann das Gejammer nicht mehr hören! Der Untergang der Kunst steht bevor, seit die ersten Menschen Büffel an Höhlenwände malten! Schon immer ging alles den Bach runter, und außerdem ist der Durchschnitt immer Durchschnitt, es gibt immer einen irgendwie falschen Konsens, der für einige Jahren Moden nach oben spült, die eine Generation später kaum mehr nachvollziehbar sind, und es wird doch immer Schlupflöcher geben, wo spannende und tolle Dinge stattfinden. Es wird immer eine Heidenarbeit sein und sich kaum lohnen, egal ob man Bands gründet, Filme macht, seinen Namen tanzt oder Morsezeichen furzt! Basta, Amen! Ich beende mein diesjähriges Berlinale-Tagebuch mit diesem flammenden Plädoyer für, äh, für was eigentlich? – egal, damit beende ich es.
Und wenn man etwas beendet hat, was macht man da? Man guckt aufs Handy. Da kriege ich einen Newsletter gesendet, darin wird ein Artikel empfohlen:
Why do Dieters succeed or fail?
Das ist eine hochinteressante Frage. Kann ich aber leider nichts zu beitragen. Kenne mich mit dem Thema nicht aus. Stattdessen blättere ich auf der Berlinale-Website ein wenig durch die Jahresarchive und entnehme denen, daß das Festivalprogramm seit dem Jahr 2002 schlagartig besser geworden ist. Über die Jahrgänge bis 2001 steht da öfter sowas wie „Fehlstart, Aufholjagd und Achtungserfolg“ oder daß der Wettbewerb durchwachsen oder sonstwie schwächelnd war. Ab 2002 ist damit Schluß, da war dann alles super. Das ist eine schöne Nachricht, denn sie zeigt, daß eben doch nicht immer alles den Bach runtergeht.
Ganz zum Schluß noch ein Loblied auf diejenigen, die nicht ganz oben, sondern ganz unten arbeiten, dort höchstwahrscheinlich am wenigsten verdienen und dafür am meisten Spaß haben, nämlich die jungen Herren und Damen an den Ticketschaltern. Die sind stets freundlich, unverwüstlich gut gelaunt und erschaffen nebenher noch Kunstwerke. Ich sah eines, war restlos begeistert und fragte, ob ich es fotografieren dürfe. Hier also das Bild. Ich sage: Meisterwerk, verneige mich vor der unbekannten Künstlerin und wünsche ihr eine große, strahlende und glückliche Karriere, und zwar nicht am Berlinale-Ticketschalter. Vielleicht ist sie nächstes Jahr schon irgendwo ganz oben und erschafft neue Kunst, die die Fans der alten auf die Barrikaden treibt. Oder sie dreht die nächsten sieben Jahre lang einen Dokumentarfilm über den erwähnten Autoschrauberhof. Wer weiß.