Ich mag spontane Gespräche mit Wildfremden. In vielen Teilen der Welt kommt man jederzeit einfach so mit irgendwelchen Leuten ins Gespräch, und sie sind fast immer sehr nett, egal wo man ist. Deutschland gehört eher nicht zu diesen Teilen der Welt. Manchmal aber doch. Beim Medienboard-Empfang stehe ich mit ein paar Leuten am Eingang herum, ein Security-Mann bittet uns weiterzugehen, wir kommen ins Reden, sein Kollege sagt “du redest doch nicht etwas mit dem Feind”, ich sage “sind wir etwa der Feind?”, schon sind wir mitten im Gespräch, er erzählt, dass er den Job seit 35 Jahren macht, und ich erwidere, dass ich mich da sehr gern mal mit ihm unterhalten würde, quasi ein Recherchegespräch ohne dazugehörige Recherche, denn was der zu erzählen hat, das ist bestimmt hochinteressant, auch wenn ich kein Filmprojekt vorhabe, in dem es um Security auf Events geht. Dieser sozusagen journalistische Aspekt beim Filmemachen hat mich ohnehin all die Jahre immer begeistert: Man kommt an alle möglichen Orte und mit allen möglichen Leuten in Kontakt, und die erzählen einem Sachen, die man sich niemals hätte ausdenken können, und aus diesen Sachen kann man dann wieder Filme machen, und da kommt man dann wieder an Orte und so weiter. Das könnte ich mein ganzes Leben immer so weiter machen. Werde ich wohl auch. Habe ja nichts anderes gelernt.
Zwei Tage später gehe nochmal ins Kino und schaue mir Richard Linklaters “Blue Moon” an. Es ist interessant, wie man einen Film betrachtet, über den man rein gar nichts weiß. Jeder Film hat ja irgendwelche Spielregeln, “Genre” bedeutet nichts anderes als ein Satz Spielregeln, und bei den meisten Genres sieht man schon in den ersten paar Bildern, woran man ist. “Blue Moon” handelt von Broadway-Texter Lorenz Hart, der 1943 starb, soviel weiß ich, mehr weiß ich nicht. In den ersten Bildern sieht man ihn betrunken in der Gosse, dann ein paar Wochen früher in der Uraufführung eines Musicals, das sein langjähriger musikalischer Partner Richard Rodgers ohne ihn gemacht hat, weil er in letzter Zeit zu oft betrunken war. Dann schlägt er in der Bar auf, in der die Premierenparty stattfinden soll, und redet da erstmal stundenlang auf den Barkeeper ein. Angesichts der vorangegangenen Szenen denke ich mir, das ist jetzt bestimmt nur eine Szene von zahlreichen, gleich geht’s wieder raus und auf irgendeine Probebühne und dann folgt ein bunter Reigen opulenter 40er-Jahre-Swing, einmal Broadway rauf und runter, aber als Ethan Hawke nach 20 Minuten immer noch nicht aufgehört hat, auf den Barkeeper einzureden, ahne ich irgendwann, dass der Film aus dieser Bar überhaupt nicht mehr herauskommen wird. Es handelt sich nämlich um ein Kammerspiel. Hätte man wissen können, wenn man das Programm gelesen hätte. Oder wenn man am Anfang richtig scharfsinnig mitgedacht hätte, als nämlich das Filmteam begrüßt wurde und direkt danach die Botschafterin der Republik Irland. Aha, dachte ich da in schönster Naivität, sind die zufällig mal in einer Berlinale-Premiere gelandet, nett, dass sie extra begrüßt werden, warum nicht, ich mag Irland auch sehr gern. Aber nein, der Grund der Anwesenheit samt Begrüßung ist natürlich: Der Film wurde in Irland gedreht. Und da der Broadway sich nicht in Irland befindet, wurde er im Studio gedreht. Und da haben sie vermutlich nicht für 100 Millionen Dollar fünfzig opulente Sets gebaut, sondern vermutlich eher ein einziges. Da hätte mir also schon klar sein können, wohin die Reise geht. Wenn ich scharfsinig gewesen wäre. Was ich nicht war.
Ein kurzer Moment der Irritation also, da die eingangs angenommene Spielregel sich als falsch erwies und man sich jetzt auf eine andere einlassen muss. Ethan Hawke hat eine richtig schön fiese Dreiviertelglatze mit drübergekämmtem Resthaar und spielt sich einen Wolf. Er macht das wunderbar, und das Drehbuch ist gut strukturiert und nicht arm an Pointen. Trotzdem spielt er sich halt einen Wolf, und das will man ja eigentlich nicht, es soll ja so mühelos aussehen wie einer dieser völlig geisteskranken Fahrradkunststücke, die man immer auf Facebook und Instagram angezeigt bekommt, wenn man sich einmal eines davon angeschaut hat, Leute stürzen sich in Todesverachtung irgendwelche Steilhänge hinunter, machen Sprünge im mittleren zweistelligen Meterbereich, manchmal fliegen sie dabei auch fürchterlich auf die Nase, stehen dann auf und machen weiter, ich schweife ab, nach kurzer mentaler Umstellungsphase ist es mir also gelungen, die neue Spielregel zu akzeptieren, und dann, als die Hawke-Hart-Soloshow wirklich ein bißchen nervtötend zu werden droht, kommt zum Glück das restliche Ensemble zur Tür herein (also im Film, bei uns im Saal sitzt es ja schon). Richard Rodgers wird famos gespielt von einem (irischen, wie ich später erfahre) Schauspieler namens Andrew Scott (außerdem bekannt als der Priester aus “Fleabag”), der seine Sache für mein Empfinden auffallend gut macht und dafür prompt fünf Tage später den Silbernen Bären bekommt, und dann ist da noch Margaret Qualley, Tochter von Andie MacDowell, der in Film und Realität alle zu Füßen liegen. Ethan Hawke trägt nicht nur eine künstliche Glatze mit Resthaarperücke, seine Figur soll auch eher kleinwüchsig sein, er steht also immer eine Stufe tiefer als seine Spielpartner, und das, Verzeihung, haut nicht hin. Die Proportionen sind falsch. Viele Schauspieler sind ja eher nicht so groß, Ethan Hawke schon, ich sehe den Oberkörper eines Ein-Meter-achtzig-Typen, dem sie halt jeweils ein Loch gegraben haben. Und dann gibt es noch einen Gegenschuß mit Rückansicht, und da steht dann halt jemand anders. Das Drehbuch ist weiterhin gut, die Regie auch, das ist alles schlau und sensibel und mit Sinn für doppelte Böden und insgesamt von einer freundlichen Humanität, die sich durchs ganze Werk von Richard Linklater zieht und der mit der man gern zwei Stunden verbringt. Das Studio bleibt trotzdem Studio, und das ist irgendwie schade, denn die spontan-improvisatorische offene Realität, in der Linklaters Filme sonst meistens spielen, steht ihnen für mein Empfinden besser. “Boyhood” bespielt ja in gewisser Weise die größte Welt, die man im Kino je gesehen hat, die Welt von „Boyhood“ war majestätische zwölf Jahre groß, das muß man erstmal hinkriegen (und das ist auch schon wieder elf Jahre her). Eine echte Bar und ein echter Innenraum mag dagegen klein sein, aber sie ist immer eine Gegenwelt zu einem irgendwie andersgearteten Außen, die Außenwelt spielt immer quasi mit. Wenn es jedoch dieses Außen nicht gibt und per Spielregel auch nicht geben kann, dann verliert auch die Innenwelt ihre Aufladung und wird zur bedeutungslosen Scheinwelt. Oder so ähnlich. Diese zwei oder drei Umstände lenken die Aufmerksamkeit also weg von der filmischen Illusion und auf die Tatsache, dass der Film ein Film ist, ich mag ihn trotzdem, und außerdem bewundere ich ganz nebenbei, wie englischsprachige Schauspieler immer mühelos die Akzente wechseln, dass also Briten Amerikaner spielen und Iren Briten und Neuseeländer Afrikaner und so weiter. Man stelle sich das hierzulande vor, dann könnte man nach Herzenslust alle als Österreicher besetzen und dann als Schweizer oder als Schwaben oder als Nordlichter. Geht bekanntlich eher weniger. Dialektimitation ist nochmal was ganz anderes als Schauspielerei, und schlecht nachgemachter Dialekt ist ungefähr so fatal, wie wenn Ethan Hawke mittendrin die Glatzenperücke verlieren und dann noch eine Kulissenwand umfallen würde. Der Abspann ist dann ganz schön lang, sehr viele Leute waren in Lohn und Brot, aber die Dreharbeiten haben laut Regisseur nur 15 Tage gedauert. Entweder man hat also derartig viel Geld fürs Team ausgegeben, dass man sich dann nur noch diese sehr kurze Drehzeit leisten konnte, oder man war halt einfach schnell und daher schnell fertig.
Als der Film vorbei ist, renne ich hinter die Bühne und erzähle Richard Linklater all das und dass ich “Boyhood” hier 2014 gesehen habe und dann machen wir noch ein Selfie, nein, das mache ich nicht, sondern gehe noch im “Hub” einen trinken. Das “Hub” ist die neue temporäre Hütte, die dort steht, wo vorher die “Audi Lounge” stand. Man kann da ganz gemütlich herumsitzen und den Aktivitäten auf dem roten Teppich zuschauen. Außerdem heißt das “Hub” nicht “Ritter Sport Tiffany Hub” und auch nicht “Credit Suisse Volksbank Uber Eats Hub”, sondern einfach “Hub”, wird also vermutlich nächstes Jahr auch noch so heißen, anders als ich selber, denn ich heiße zur Zeit ja Dietrich Kentucky Fried Chicken Miele Bauknecht, nächstes Jahr hingegen werde ich Roland Berger Tommy Hilfiger Calvin Klein heißen, um auch diesen Gag zum krönenenden Abschluß nochmal totzureiten.
Die Berlinale geht dann leider ohne mich zu Ende, ich muß schreiben und schneiden und so weiter. Ein paar Tage später treffe ich dann aber zufällig im Buchladen eine Person, die hier schon erwähnt wurde, und zwar die Pressefrau von arte (immer noch kleingeschrieben), die mir erzählt, sie habe diesen Blog gelesen und der sei ja total toll. Das freut mich, denn ich weiß erstens gar nicht so genau, ob das eigentlich irgendwer liest, bei Facebook kommen immer ungefähr soviele Likes, wie “Blue Moon” Drehtage hatte, und außerdem bin ich mir auch gar nicht so sicher, ob das toll gefunden wird oder eher schrecklich. Rede ich mich hier um Kopf und Kragen? Bin ich wie einer dieser bedauernswerten Leute, die Verkäufer und Markthändler und Kellner in endlose Monologe verwickeln müssen, weil sie sonst niemandem zum Reden haben? Vielleicht ja? Warum mache ich es dann?
Nun ja: Weil ich es mache. Stoisches Vor-sich-Hinschreiben, ungefähr so wie der berühmte kleine Pinguin in der Antarktis-Doku von Werner Stipetič/Herzog, der einfach so in die Eiswüste hinausspaziert, weil er das halt macht, fertig. Der kleine Pinguin würde sich aber vielleicht auch freuen, wenn er im modernen Antiquariat am Marheinekeplatz auf die Pressefrau von arte (sic!) träfe und die ihm sagen würde: Super, was du da machst. Vielleicht hat sich eine derartige Szene ja sogar ereignet, und Werner Red Wing Land Rover Herzog hat sie nicht in den Film reingenommen, weil sie ihm nicht ins Konzept gepasst hat. Für besagten Herzog habe ich übrigens zum Europäischen Filmpreis 2019 eine Opernarie geschrieben und komponiert, quasi als Rodgers und Hart in Personalunion, eine gesungene Laudatio, die sein Lebenswerk feierte. Man soll sich ja mit Eigenlob zurückhalten (bzw. es strategisch geschickt auf andere auslagern), das versuche ich auch meistens, hier jedoch nicht, daher: Diese Arie ist grandios, ich erteile mir maximales Eigenlob, ich möchte bitte der erste Filmemacher der Welt sein, der sich in erster Linie mit einer Opernarie für einen anderen Filmemacher ins kollektive Gedächtnis der Welt einschreibt, außerdem ist sie im Sechs-Achtel-Takt, und davon muss es ohnehin mehr geben.
Die arte-Pressefrau (diese Kleinschreibung wirkt in Bindestrich-Zusammenstellung besonders seltsam) und ich halten also ein nettes Schwätzchen im modernen Antiquariat, umgeben von hunderten von Mängelexemplaren, die eigentlich gar keine Mängel haben, sondern einfach nicht verkauft wurden und deswegen jetzt billiger sind, und die Frau an der Kasse fragt, ob Berlinale-Veranstaltungen nicht eigentlich gut wären, weil kostenloses Essen und Getränke. Die Pressefrau von Arte (könnte man klein schreiben, mache ich aber nicht) erwidert: Nein, die sind schrecklich, der Lärmpegel ist unerträglich, ich hab immer Ohrstöpsel drin, hatte ich übrigens auch, als wir uns begegnet sind.
Das ist ein sehr schönes Schlußwort, das lasse ich einfach so stehen. Wir sehen uns nächstes Jahr, tschüs, bis dann, danke, macht’s gut, passt auf euch auf, schlaft schön, haut rein.
2 Responses to Berlinale, Tag 7-10: Ethan Hawke spielt sich einen Wolf in Irland und dann ist schon wieder alles vorbei.