Ich hatte den brühwarmen Insiderbericht von der angesagtesten Geheimparty versprochen, dann kam was dazwischen, aber jetzt reiche ich ihn nach, und damit endet denn auch mein diesjähriger Berlinale-Blog. Die Berlinale dauert zwar zehn Tage, aber nach dem siebten ist die Luft raus, zumindest bei mir, der Rest ist Schweigen, nächstes Jahr geht es weiter oder auch nicht.
Also: Veranstaltet wird die Party aller Partys von einem Schauspieler. Nennen wir ihn XY. Wer sich mit XY gut stellt, der erfährt im Lauf des Tages eine geheime Handynummer, die muß man anrufen, und da wird dann durchgesagt, wo die Party ist.
Ich kenne XY so mittelgut. Ich habe ihm geschrieben und gefragt, wann die Party ist. Er verriet mir den Termin. Danach kam nichts mehr. Vielleicht stehe ich nicht so gut mit XY. Keine Ahnung. Aber in mir ist der feierwütige 16jährige erwacht, der ich mit 16 nicht war, also organisiere ich mir über anderweitige Freunde die Info und erfahre: Direkt am Potsdamer Platz, ab 21:30 Uhr. Man soll sich spektakulär kleiden. Kein Problem, kriege ich hin: Ringelshirt, Anzug, irgendeine Krawatte, absurder Hut. Ich wohne nicht weit, also lasse ich die Jacke weg, schwinge mich einfach so aufs Rad und fahre gegen 22 Uhr rüber. Als ich ankomme, war ja klar: Schlange. Ziemlich lange Schlange. Sowas vermeide ich eigentlich. Wenn es nicht unbedingt sein muß, dann stelle ich mich nicht in Schlangen. Aber egal. Ich will auf die Party, also stelle ich mich nicht so an, sondern stelle mich hinten an.
Die Schlange ist aber nur im hinteren Teil schlangenförmig. Vorne ist sie ausgebeult wie eine Schlange, die gerade einen Elefanten verschlucken will, und zwar, weil sehr viele Leute erstmal vorn gucken, ob man vielleicht gleich reinkommt, wenn man jemanden kennt, der jemanden kennt. Kern der Menschentraube ist eine unscheinbare Tür, hinter der sich eine Aufzugtür befindet, und diese wird von drei oder vier Türstehern bewacht.
Ich stehe jetzt aber 30 Meter entfernt am hinteren Ende der Schlange. Die nächsten Ankömmlinge sind zwei mitteljunge Herren in teilweise femininen Klamotten. Man kommt ins Gespräch. Sie sind nett. Dann kommt ein Bekannter dazu und hat einen Bekannten dabei. Die sind auch nett.
Die Schlange bewegt sich ein bißchen. Leute in übelst verschärften Edelkleidern spazieren an uns vorbei, um das vordere Ende der Schlange zu besichtigen. Ich habe keinen Überblick, ob sie zurückkommen oder vorn reingelassen werden. Und dann passiert es: XY tritt höchstselbst leibhaftig auf die Bühne! Er hat ein Handy in der Hand. Er telefoniert. Er würdigt mich eines Seitenblickes. Ich fühle mich privilegiert. Er schaut wieder weg. Ich fühle mich nicht gesehen. Er lotst ein paar Leute, darunter prominente Gesichter, in die andere Richtung, um das Gebäude herum. Anscheinend gibt es da noch einen anderen Eingang.
Mittlerweile ist eine halbe Stunde vergangen. Einer von den mitteljungen Herren sponsort eine selbstgedrehte Zigarette. Rauchen verbindet. Ich unterhalte mich mit dem Bekannten des Bekannten. Er war auch auf der Filmhochschule, macht jetzt aber “immersiven” Film. Also: 360°-Rundum-Kino. Kann man beispielsweise in Planetarien zeigen. Oder in der Kuppel des Gebäudes, vor dem wir stehen, das wurde nämlich mal als Imax-Kino errichtet und hatte zwei verschiedene Leinwände, eine sehr große und eine extrem riesengroße, und eine dieser Leinwände konnte man mit einem spektakulären Mechanismus vor die andere fahren. Dann stellte sich aber heraus, dass nebenan im Sony Center ein zweites Imax-Kino eröffnet wurde, zwei Imax-Kinos waren offenbar zuviel für den Standort, also wurde dieses hier geschlossen und zum Spielort für die “Blue Man Group”. Dort stehen wiederum viele Musiker, die ich persönlich kenne und schätze, in Lohn und Brot. Blue Man Group also positiv konnotiert. Das andere Imax-Kino ist hingegen mittlerweile auch geschlossen und tot. Schon ein einziges Imax-Kino war anscheinend zuviel für den Standort, aber für diesen Standort ist ja offensichtlich alles zuviel. Man kann am Potsdamer Platz irgendwas machen, egal, nach einem Jahr steht es leer und scheitert kläglich vor sich hin. Sogar die vernichtenden Urteile über den Potsdamer Platz als gescheiterte Urbanitätsvision eines inhuman bescheuerten Kapitalismus, die zu jeder Berlinale wieder rausgeholt werden, scheitern irgendwie kläglich vor sich hin. Nur die Schlange, in der ich stehe, ist eisern stabil, die bewegt sich so wenig wie die Cum-Ex-Ermittlungen gegen unseren Bundeskanzler. Ich schwadroniere mit dem Bekannten des Bekannten darüber, dass 3D anders als Ton und Farbe nie fester Bestandteil des Kinos wurde, sondern immer nur als kurzlebiger Hype kam und wieder ging. XY ist zwischenzeitlich ein paar Mal vorbeigekommen, aber mir gelang keine weitere Kontaktaufnahme.
Zwischendurch denke ich kurz und mit leisem Bedauern an die andere angesagte Berlinale-Party, auf der ich dieses Jahr leider nicht war, nämlich die von den Lass-Brüdern im SO36. Keine Gästeliste, keine Geheimniskrämerei, man steht zwar auch Schlange, aber vor einer normalen Tür, nicht vor einem unregelmäßig verkehrenden Fahrstuhl, und dann zahlt man Eintritt und ist drin. Jaja, so kann man das auch machen, jaja, aber jetzt stehe ich hier, ich kann nicht anders.
Gerüchte werden von vorn durchgereicht: In den Aufzug passen nur fünf Leute, und er ist anscheinend sehr langsam. Dann läuft XY ein viertes oder siebtes Mal vorbei und geleitet Promis zum anderen Eingang. Diesmal hat er Tilda Swinton, Hanns Zischler, Lavinia Wilson, Wilson Gonzalez Ochsenknecht, Iris Berben, Hildegard Knef und Johannes Heesters im Schlepptau. Diese Liste ist bewußt falsch und irreführend. Ich winke, er ignoriert mich. Ich könnte aus der Schlange ausscheren und mich einfach an diese Truppe dranhängen, XY würde mich höchstwahrscheinlich nicht wegschubsen, aber mein Schlangesteh-Ethos verbietet das, ich verharre solidarisch in der Schicksalsgemeinschaft der Frierenden und trage weiterhin keine Jacke über meinem Dress-to-impress-Anzug. Die Uhr zeigt 70 Minuten seit Beginn der Steherei. Ich schnorre noch eine Zigarette und bleibe standhaft, während vor und hinter mir allmählich die Flucht ergriffen wird.
Nach neunzig Minuten ist die Schlange zusammengeschrumpft. Vor uns wurden jetzt so ziemlich alle reingelassen, hinter uns ist schon seit einiger Zeit niemand mehr dazugekommen oder alle wieder abgehauen, es sind vielleicht 50 Leute übrig, und allmählich macht sich Unmut bemerkbar. Die Türsteher regieren wie souveräne Feldherren, alle paar Minuten kommt der legendär langsame Aufzug, dann schleusen sie nach einem undurchschaubaren System irgendwelche Leute durch und weisen den Rest ab. Ich einige mich mit dem Bekannten des Bekannten, dass der Begriff “Selektion” hier total falsche Assoziationen weckt, aber “selection” (auf Englisch) kann man dazu schon sagen. “Selection ist ja nebenbei auch das, was Filmfestivals machen, nämliche aus tausenden Bewerbern zwanzig reinlassen und den Rest nicht. Dann erscheint an der Seitenlinie ein Mann mit einem gewissen Bauchumfang und geht nach vorn. Es ist die lebende Legende des Berliner Nachtlebens, der Türsteher Frank Künster, bekannt aus der ehemaligen “King Size Bar”, in der ich nie war, was ich übrigens mit Lars Eidinger gemeinsam habe. Keine Ahnung, warum Lars Eidinger in diesem Blog so oft auftaucht, ich kenne ihn kaum, aber das hat er zwei Abende zuvor zufällig erzählt.
Frankie Künster wechselt ein paar Worte mit den Kollegen, aber den Aufzug oder den Selektionsprozess beschleunigen kann er auch nicht, also kippt die Stimmung ins immer Sauerere. Ich friere jetzt doch ganz schön und stelle mit dem Bekannten des Bekannten Betrachtungen darüber an, dass das Nachtleben ja eigentlich merkwürdig paradox ist, weil es eine Art Feier-Exzess-Gegenwelt zur Alltagswelt verspricht, wo man dem gnadenlosen Leistungs- und Konkurrenzdruck der modernen Erwerbswelt entflieht und sich in egalitärer Entgrenzung ergeht, aber dass die Schlangestehfolter mit nachfolgendem Auswahlprozess durch kafkesk arrogante Party-Beamte dieser Utopie eigentlich höhnisch ins Gesicht lacht. Das Nachtleben ist also mitnichten eine konträre Gegenwelt zu unserer Leistungsdruckgesellschaft, sondern vielmehr deren äußerste Steigerung, deswegen habe ich mich auch nie in Clubschlangen gestellt, und mein bisher einziger Besuch im Berghain war Sonntag morgens ohne Schlange. Die Soziologie kennt das “Rockerparadox”, das ist so ähnlich: Motorradrocker feiern zumindest rhetorisch die absolute Freiheit von allen gesellschaftlichen Zwängen, unterwerfen sich in ihrer Rockergesellschaft noch viel rigideren Zwängen.
Eine neue Information wird nach hinten durchgereicht: Der Aufzug ist jetzt leider kaputt. Was das bedeutet, ist unklar. Ist aber auch schon egal. Wir bleiben hier stehen, wir gehen nicht mehr weg, drei Tage wach. Und dann sagt einer der Herren direkt vor mir den denkwürdigsten Satz des Abends, als nämlich sein Begleiter vorschlägt, man könne doch auch allmählich mal das Handtuch werfen, und er in einem Tonfall, den man mit Fug und Recht “stinksauer” nennen kann, erwidert:
Nee. Wir sponsorn die Scheiße.
Ich frage nach und vergewissere mich: Ihr macht was?
Jawohl, der Mann gehört zu einem nicht näher bezeichneten “Wir”, von dem der Wein stammt, der heute dort oben ausgeschenkt wird.
Wow.
Mehr fällt mir dazu nicht ein. Aber es fällt mir zweimal ein. Also nochmal:
Wow.
Der Bekannte und sein Bekannter beschließen, dass es jetzt reicht, und verschwinden. Daraufhin fühle ich mich auch nicht mehr so richtig an die Schlangesteh-Solidaritätsgemeinschaft gebunden, und als XY ein weiteres Mal vorbeikommt und Leute in die andere Richtung lotst, laufe ich einfach hinterher. Der Weg geht wie vermutet um das Gebäude herum, und siehe da: Dort gibt es einen total stinknormalen Eingang, hinter dem drei total stinknormale Aufzüge auf Publikum warten. Zulässiges Gesamtgewicht: 1500kg oder 18 Personen. Ich steige ein, fahre nach oben und kann es nicht glauben, kann mein Glück nicht fassen, schnappe über vor Begeisterung, anderthalb Stunden Herumstehen, Frieren, Fluchen, Rauchen und Betrachtungen über Welt und Gegenwelt haben sich am Ende gelohnt: Ich bin auf der Party.
War dann durchaus nett. Mit ein paar Leuten geredet, zwei oder drei Bier getrunken, nach zwei Stunden wieder gegangen.
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