Ich bin kein Mediziner und kein Naturwissenschaftler. Ich bin Autor und Regisseur, beschäftige mich beruflich also mit Wahrnehmungspsychologie in Menschenmengen, mit Narratologie, Dramaturgie und Plausibilität in Kausalketten. Außerdem bin ich Bürger eines demokratisch verfassten Staates und als solcher Objekt, aber auch Subjekt politischen Handelns. Ich kann in diesen Tagen gar nicht anders, als mir zur Corona-Epidemie meine eigenen Gedanken zu machen.
Momentan sehe ich in der Öffentlichkeit eine große, weitgehend unkritische Einigkeit: Mach, was Mutti sagt. Der Diskurs nimmt gelegentlich totalitäre Züge – wer an den derzeitigen Maßnahmen zweifelt und nach anderen Wegen fragt, der hat nicht einfach eine andere Meinung, die es zu diskutieren gilt, sondern dem wird unterstellt, er sei ein vergnügungssüchtiger, herzloser Egoist, ein Soziopath, dem Menschenleben völig egal wären, und derlei mehr. Es erübrigt sich eigentlich, zu dieser Art von Polemik Stellung zu nehmen, dennoch ganz kurz zwei Dinge: Erstens, persönlich, treibt mich nicht die egoistische Vergnügungssucht, sondern im Gegenteil die Sorge um die ungeheuren Verheerungen, die zur Zeit durch die gesamtgesellschaftliche Vollbremsung passieren. Mir ist egal, wann das Berghain wieder aufmacht, aber mir ist nicht egal, wenn um mich herum massenweise Menschen vor den Trümmern ihrer Existenz stehen. Und zweitens, ganz grundlegend: Offene Debatte ist die zentrale Säule einer Demokratie. In den Wissenschaften, in der Politik, überall muß es möglich sein, andere Meinungen zu vertreten als die derzeit herrschenden. Schon mein ganzes Leben wurde ich zum Selbstdenken angehalten. Wenn das überhaupt irgendwann einen Wert haben soll, dann doch jetzt, in der größten Krise, die wir bisher erlebt haben (und hoffentlich erleben werden).
Auf der anderen Seite findet man viel unseriöses – meist sind es Youtube-Videos auf obskuren Kanälen, in denen irgendwer mir erklären will, das alles sei wahlweise eine Verschwörung oder halt nur eine bessere Erkältung. Auch hierzu erübrigt sich eigentlich jeder Kommentar, aber der Vollständigkeit halber sei es gesagt: Fallt nicht auf so etwas herein. Gerade jetzt sollten wir alle uns an seriöse und nachvollziehbare Quellen halten. (Ein Sonderfall scheint mir die Virologin Karin Moelling zu sein, deren Argumentation im Radio-Eins-Interview mir durchaus nachvollziehbar erscheint, wenngleich sie die Erklärung für die Ereignisse in Italien schuldig bleibt. Ihre anderen Interviews habe ich noch nicht in voller Länge gehört. Ich wäre dankbar für Hinweise von Leuten mit Fachverstand, die das einordnen können.)
Wir haben also eine Situation, in der wir einerseits vor einer möglichen Epidemie mit zahlreichen Toten stehen (siehe Italien und Spanien) und andererseits vor einer Wirtschaftskrise ungeahnten Ausmaßes (ebenfalls mit nicht wenigen Toten, wenn man es nüchtern zu Ende denkt). Und um es kurz zu machen: Ich halte das zweite Szenario für deutlich gravierender und auch für wahrscheinlicher (von Wahrscheinlichkeit muß man eigentlich nicht mehr reden, denn es hat ja bereits angefangen, wohingegen die Epidemie weiter auf sich warten läßt – die Krankenhäuser sind auf den Ansturm vorbereitet, bisher ist er aber ausgeblieben, so zumindest Charité-Chef Kroemer gestern in der Pressekonferenz. Und überhaupt würde ich sehr gerne mal Daten sehen, wie denn die Lage in den Kliniken eigentlich ist).
Das Zauberwort dieser Tage lautet: Evidenz. Also belastbare Meßdaten, anhand derer wir unser Handeln ausrichten können. Die gibt es nun leider kaum. Forscher warten mit gutem Grund sehr lange, bis sie sich felsenfest sicher sein können. Christian Drosten sagt noch im Podcast vom 28.2. wörtlich: „Es gibt im Moment überhaupt keinen Grund, irgendetwas zu machen oder sich irgendwelche Sorgen zu machen“ und fährt fort, daß er sich eher Sorgen macht um das, was in einem Jahr sein könnte (sämtliche Folgen als PDF gibt es hier). Anfangs lautet seine Botschaft „Keine Panik“, das ändert sich dann erst irgendwann. Und das kann man ihm nicht vorwerfen – er verläßt sich nicht auf Medienpanikmache, sondern auf Evidenz. Und auch als die Lage dann ernst wird und die Politik Maßnahmen ergreift, bleibt er korrekt und sagt: „Wenige der Entscheidungen der letzten Tage waren rein evidenzbasiert, viele waren vor allem politisch und bestimmt richtig. Sie sind zum Teil sicher auch unter dem Eindruck der strikten Maßnahmen in den Nachbarländern zustande gekommen.“ (Zeit-Interview vom 20.3.)
Hätte jemand am 28.2. geschrieen: DOCH!! PANIK! WIR MÜSSEN JETZT ALLE VERANSTALTUNGEN ABSAGEN!, dann würden wir ihm im Nachhinein recht geben. Hinter ist man klüger. Aber kann man daraus etwas lernen?
Ich meine: Ja.
Denn auch jetzt sehen wir wieder dasselbe: Warten auf hammerharte Evidenz. Wir müssen die Wirksamkeit der Maßnahmen abwarten, bevor wir irgendwas entscheiden. So argumentieren die Naturwissenschaftler, und auf ihrem Gebiet haben sie recht. Aber dieselben Wissenschaftler betonen ja auch immer, daß hier politische Entscheidungen getroffen werden müssen, und zwar von Politikern, die auch andere Parameter im Blick haben.
Und da kann man meines Erachtens sagen: Wir haben klare soziologische und ökonomische Evidenz, daß hier bereits ein ungeheurer Schaden angerichtet wurde, der von Tag zu Tag schlimmer wird. Reihenweise stehen Menschen und Firmen vor dem Bankrott, von häuslicher Gewalt und psychischen Krankheiten ganz zu schweigen. Die versprochenen unbürokratischen Hilfen erweisen sich als alles andere als unbürokratisch. Oder sie laufen auf „Hartz IV“ hinaus. Oder auf Kredite zu 7% Zinsen. Wir und kommende Generationen werden über Jahre und Jahrzehnte die Rechnung bezahlen. Und das ist kein kaltherziges Wirtschaftsdenken, das sind nicht ein paar Euro mehr oder weniger auf dem Konto, da geht es bei vielen Menschen um die nackte Existenz, und das schlägt sich nicht zuletzt auch in Krankheiten und Todesfällen nieder.
Es ist also meiner Meinung nach an der Zeit, daß genau jetzt jemand das ruft, was Ende Februar noch nicht gerufen wurde: Stop! Panik! Wir müssen SOFORT etwas unternehmen! Wir müssen die Maßnahmen lockern und dafür die Risikogruppe konsequent schützen. Wir können nicht warten, bis die Virologen sich felsenfest sicher sind – es geht einfach zuviel kaputt, der Schaden durch die Kur würde dann den Schaden durch die Krankheit um ein Vielfaches übertreffen. Es ist ein bißchen wie ein Schlangenbiss im Knöchel – der ist bei Nichtbehandlung tödlich, also amputiert man sicherheitshalber das ganze Bein.
(EDIT: Ich wurde auf eine Unklarheit hingewiesen, die ich hier korrigieren will. Ich halte die anstehende Wirtschaftskrise nicht für schlimmer als eine Epidemie mit vielen Toten, ich halte sie jedoch für deutlich schlimmer als den Verlauf, den wir kriegen, wenn wir die Maßnahmen lockern, z.B. im Sinne von „Smart Distancing“, wie Alexander Kekulé es im unten verlinkten Interview vorschlägt.)
Manche Stimmen sagen nun: Risikogruppen schützen? Wie soll das gehen? Und machen die Leute das mit? Ich glaube, die zweite Frage hat sich in diesen Tagen in Deutschland erledigt. Die Leute machen wirklich erstaunlich viel mit. Und auf die erste Frage gibt es zahlreiche, simple Antworten, wie man sich und andere vor Ansteckung schützt. Vergleiche dazu die ersten Folgen des Drosten-Podcasts oder auch diesen Text: „During the SARS epidemic, I traveled all over China and Hong Kong, interviewed people infected with the virus, doctors and nurses treating the disease, government officials, police—everybody. I was never concerned that I would become infected, despite being in the room with sick individuals. And that’s because I knew what precautions to take. Here are the most important ones to know.“
In der Pressekonferenz von gestern wurde Christian Drosten zu diesem Thema (Risikogruppenschutz) übrigens auch gefragt. Er hat es knapp vom Tisch gewischt: Nein, das ist trivial, das kann man modellieren, das geht nicht. Ich finde diese knappe Pauschalaussage irritierend und finde es bedauerlich, daß nicht genauer nachgefragt wurde. Zumal genau darauf ein Interview hinausläuft, das der Virologe Alexander Kekulé heute der „Zeit“ gegeben hat.
Ich finde kein gutes Fazit für diesen Text. Also belasse ich es einfach dabei. Er ist ohnehin schon lang genug. Und das Ende ist offen.
Noch ein paar weitere Links:
Es gibt einen Text vom „Netzwerk für Evidenzbasierte Medizin“. Es lohnt sich, den in voller Länge durchzulesen. Er kommt zu keinem sensationell anderen Fazit, aber er stellt zahlreiche Fragen, die derzeit in der Öffentlichkeit kaum gestellt werden. Er traut sich sogar, den Grippe-Vergleich aufzumachen, der ja so etwas wie der neue Hitlervergleich ist. Dan man aber durchaus anstellen kann, sofern man „vergleichen“ nicht um umgangssprachlichen Sinne als „gleichsetzen“ versteht, sondern als „nebeneinanderhalten und nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden fragen“. Ich zitiere ich eine längere Passage:
„Die Zahlen aus China sind wenig glaubwürdig. Dass in einem Land mit 1,4 Milliarden Menschen das „Containment“ so gut funktioniert, dass sich plötzlich niemand mehr infiziert (25 Neuinfektionen im ganzen Land am 18.3., keine Neuinfektionen am 19.3.) [3], erscheint doch sehr unwahrscheinlich. Und was passiert, wenn die NPIs gelockert werden? Ansteckungsrate, Virulenz und Pathogenität des Virus ändern sich doch durch das Containment nicht. Das heißt, dann wird die Ausbreitung, wie im Report des Imperial College prognostiziert [16], wieder Fahrt aufnehmen und exponentiell fortschreiten, bis ca. 60 bis 70% der Bevölkerung infiziert wurden und dann immun sind. Oder wurde dieser Status in China bereits erreicht? Dann wären die 3.217 Toten (Stand 19.3.) [3] in Relation zu 1,4 Milliarden Bevölkerung allerdings weit unter der Todesfallrate der jährlichen Influenza, die wir bisher ohne drastische NPIs in Kauf nehmen.
Die bisher wenigen Todesfälle in z.B. Deutschland und Österreich sprechen ebenfalls eine andere Sprache. Wird hier im Fall von SARS-CoV-2 – im Gegensatz zur Influenza – einfach nur umfangreicher gemessen? 2017/18 sind in Deutschland 25.100 Menschen an Influenza verstorben [12]. Wenn man die vom RKI für 2017/18 errechnete CFR von 0,5% zugrunde legt, entspricht dies einer Anzahl von 5 Millionen Infizierten. Die Grippe-Saison dauerte laut Surveillance-Bericht des RKI von der 52. Kalenderwoche 2017 bis zur 14. Kalenderwoche 2018, also 15 Wochen [11]. Um innerhalb von 15 Wochen auf 5 Millionen zu kommen, müsste sich die Anzahl der Infizierten alle 4,4 Tage verdoppeln – ähnlich wie wir es jetzt bei SARS-CoV-2 sehen – nur bei der Influenza haben wir es nicht gemessen. Es gab jedenfalls 2017/18 keine Meldungen, dass unser Gesundheitssystem überlastet war, obwohl sicher alle 25.000 Grippetoten vor ihrem Tod medizinisch versorgt wurden, die meisten sicher stationär oder gar intensivmedizinisch.“
Soweit das Zitat. Wie gesagt, es lohnt sich, den ganzen Text zu lesen. Und um ganz sicherzugehen: Nein, es ist KEINE Grippe, Hergottnochmal, denn ein wesentliche Unterschied ist, daß wir keine Impfung und auch keine Grundimmunität haben. Gegenüber Corona sind wir alle erstmal immunologisch naiv und scheiden bei Infektion millionenfach Viren aus (Quelle: Drosten im Podcast, genaue Stelle müßte ich suchen).
Außerdem, anderer Schauplatz, aber dennoch interessant: Die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen ist höchst zweifelhaft. Das findet auch die Anwältin Jessica Hamed im FR-Interview.
Dazu auch Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: „Die Eingriffe in die individuelle Freiheit der Bürger müssen eine Ausnahme bleiben, verhältnismäßig sein und schnellstmöglich auslaufen. Denn auch in der Krise ist nicht alles erlaubt.„
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