Berlinale, Tag 3 – Guckst du Filme?

Leute begegnen mir und freuen sich über meine Bloggerei. Das freut mich hinwiederum. Dankeschön. Man sollte es aber nicht überbewerten, die meisten kenne ich und hätte es ihnen auch einfach per Mail rüberschicken können. Außerdem, wie jeder Dramaturg weiß, ist das allein schon Grund genug, irgendwas anders zu machen, denn sobald das Muster erkennbar ist, muß man es brechen.

Schluß jetzt also mit der Filmpolitik. Hinfort, Sarkasmus und eitle Wortspielerei. Stattdessen heute ein paar besinnliche Betrachtungen zum Thema:

Zeit.

Letztes Jahr fand ich bei Seneca einen Gedanken, der mich nicht mehr losließ. Nein, ich lese nicht ständig römische Philosophen. Eigentlich lese ich nie römische Philosophen. Aber da war diese Büchlein, meine Freundin hatte es angeschleppt, ich entwendete es ihr, und darin stand sinngemäß: Die Leute unternehmen enorme Anstrengungen, ziehen Mauern und Gräben und Stacheldracht, um Fremde von ihren Besitztümern fernzuhalten. Das wertvollste aller Besitztümer, die Lebenszeit, verschenken sie aber freigiebig. Jeder darf sich ein Stück nehmen, Stück für Stück wirft man sie hierhin und dorthin und weiß noch nicht einmal, wieviel man eigentlich hat. Irgendwann ist dann plötzlich Schluß. Und dann ist das Geschrei groß.

Soweit Seneca.
Man merkt das nur nicht so, setze ich jetzt selber hinzu, weil man sich der Illusion hingibt, die Zeit sei irgendwie ein Kreis – die Jahreszeiten kommen immer wieder, die Berlinale kommt immer wieder, der Medienboard-Empfang kommt jedes Jahr wieder. Vermutlich braucht man diese Illusion zum Leben, aber wenn man es sich mal nüchtern anschaut, wird man feststellen, daß die Zeit kein Kreis ist, sondern gnadenlos und brutal linear. Der doofe Spruch „Live every day as if it were your last“ stimmt insofern, als daß jeder Tag tatsächlich der letzte ist. Gestern zum Beispiel war der letzte 13. Februar 2016. Er wird nie wiederkommen. Er ist vorbei. Für immer. Tschüs, dreizehnter Februar 2016.

Und sie vergeht leider auch, die Zeit, wenn man nicht an sie denkt. Kurz mal Facebook runtergescrollt: Zack, schon wieder 30 unwiderbringliche Minuten vom Lebensfaden abgeschnitten. Kurz mal auf dem Medienboard-Empfang geschätzte fünfzig Zigaretten geraucht und einfach so auf den Teppich geworfen, weil das jeder macht – kawumm, schon wieder drei Stunden weg. Und währenddesen man da so vor sich hinvernichtet, kommt gelegentlich die Smalltalkfrage:
Guckst du Filme?
Oh ja, ich gucke Filme, denn das ist eine der wenigen Methoden, die Zeit nicht nur zu vernichten, sondern dabei wenigstens auch zu verdichten, damit man mehr rauskriegt, als man hergibt. Der österreichische Filmemacher Nikolaus Geyrhalter beispielsweise hat Monate damit zugebracht, in alle möglichen Gegenden der Welt zu fahren und dort einen Film über von Menschen verlassene Orte zu drehen. Der Film heißt „Homo Sapiens“, hunderte oder tausende Stunden von Arbeit zahlreicher Menschen sind in diese neunzig Minuten geflossen, die ich mir heute ansehen durfte, und besser läßt die Zeit sich kaum verdichten. Es war eine Reise, die ich in der Realität wohl nicht in neunzig Minuten hätte machen konnen. Vielmehr hätte ich Wochen und Monate meines Lebens drangeben müssen.

Ansonsten waren heute die Empfänge der Schauspielagenturen. Seltsame Sache. Da stehen sie alle herum und wissen nicht so genau, was von ihnen erwartet wird. Ich liebe Schauspieler. Sie sind Helden, und sie sind tragische Helden. Es gibt kaum eine Art, sich selbst so zum Abschuß freizugeben, wie vor einer Filmkamera. Jeder darf dich angucken und dich scheiße finden. Immer muß du irgendwie aussehen. Aber du wolltest es ja so. Keiner hat dich gezwungen. Was natürlich nicht stimmt, denn die Kunst kam einfach so herbeispaziert und hat im Befehlston gesagt: Du! Du machst das jetzt. Zack-zack, keine Widerrede.
Wie hält man das aus? Es gibt tausend Strategien, keine funktioniert garantiert. Die meisten Kompensationsmanöver für die seelische Dauerüberhitzung des Schauspielerberufs bewegen sich irgendwo entlang einer Spannbreite, an deren einem Ende „Saufen“ steht und am anderen Ende „Yoga“.

Doch wenn ich meine Lebenszeit sowieso mit jedem Atemzug vernichte, dann doch gern in Gesellschaft meiner liebsten Schauspieler. Man muß da gar nicht viel reden. Es gibt Schauspieler, die ich liebe und mit denen ich mich nächtelang bestens unterhalten kann.  Andere liebe ich ganz genauso, weiß aber eigentlich gar nicht, was ich mit ihnen reden soll. Das macht aber gar nichts, man liebt sich einfach so. Es gibt ja gelegentlich auch Frauen bzw. Männner, mit denen man ganz wunderbar tanzen kann, obwohl man sich nicht richtig viel zu sagen hat. Man steht einfach beieinander, vernichtet in aller Gemütsruhe schweigend ein wenig Zeit miteinander und weiß: Es könnte jederzeit Musik einsetzen, und dann würde man tanzen. Im Rahmen der gewählten Metapher hieße das natürlich: Drehen. Also miteinander unerhörte Mengen von Zeit vernichten und verdichten, damit irgendjemand anders, den man vermutlich nie kennenlernen wird, damit wieder anderthalb Stunden seines Leben auffächern kann in ein Vielfaches.

Eigentlich ein ganz fairer Deal.

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