Ich komme nach Hause, greife zum schärfsten Küchenmesser, setze es an mein Handgelenk, direkt an die Pulsader, und ziehe einmal energisch durch. Fühlt sich jedesmal an wie Selbstmord, ist aber nur das Abschneiden des sogenannten Bändchens. Das Bändchen ist der Eintrittsausweis für die Party, und das Bändchen trennt die Leute zweimal in zwei Gruppen: Einerseits die Eingeladenen und die Uneingeladenen, andererseits die Feiernden und die Arbeitenden (und dann nochmal die Normalos und die VIPs, aber das hatten wir ja schon).
Wer wie ich in den 80er Jahren ein Kind war, der kam an Frederick nicht vorbei. Frederick war ein Kinderbuch über eine faule Maus, die keinen Bock auf Arbeit hat, sich von den anderen Mäusen durchfüttern läßt und ihnen im Gegenzug irgendwas von Sonnenstrahlen und Farben vorfaselt, woraufhin die anderen Mäuse ihn nicht etwa davonjagen, sondern als Künstler feiern. Im Buch ist Frederick allerdings der Held. Die arbeitenden Mäuse sind eher so Komparsen und haben keine höheren geistigen Interessen. Frederick muß ihnen erst die Augen öffnen. Die Botschaft war klar: Man sollte so sein wie Frederick. Unsere Kindergärtnerinnen, die damals noch nicht Erzieherinnen hießen, lasen uns das Buch vor, und am Ende, wenn es auf die Pointe zulief, verlangsamten die Kindergärtnerinnen ihre Stimme und wurden im Tonfall ganz bedeutsam, denn am Ende sind die doofen Körnersammelspießermäuse sehr ergriffen, nachdem Frederick seinen Sonnenstrahlenmonolog beendet hat, und das Buch endet mit folgendem Schlagabtausch:
Frederick, du bist ja ein Dichter!
Ich weiß es, ihr lieben Mäusegesichter.
Ich kann mich erinnern, daß ich das schon als Kind ziemlich mies fand. Erst läßt Frederick die anderen arbeiten und macht keinen Finger krumm, dann quittiert er das Lob mit einem blasierten „weiß ich längst“, und dann kommt noch so ein Reim aus der Brechstangenabteilung. Wenn Kunst, dann bitte nicht so.
Es gibt ja im Volke dieses stets köchelnde Ressentiment, daß Künstler eigentlich nur Parasiten seien, Schmarotzer am kraftstrotzenden Körper der wahren Wirtschaft, wo wahre Hände in wahrer Arbeit wahre Werte schöpfen. Wollte man Belege für diese These suchen, so würde man auf Berlinale-Partys einige finden. Die einen betrinken sich mit Freibier, die anderen schleppen die dazugehörigen Bierkästen über die Köpfe der Menge, stehen sich am Einlaß die Beine in den Bauch, lächeln stets freundlich und haben Anweisung, das Bändchen auch schön festzuziehen, damit es nicht an Unbefugte weitergereicht wird. Hätte ich einen dieser Jobs, dann hätte ich nichts als Verachtung im Herzen. Trinkgeld gibt es eh keins, dafür garstige Wortgefechte mit Leuten, die nicht auf der Liste stehen, dann kommen sie alle nach und nach wieder hinausgewankt, beschweren sich über ihre unbequemen Schuhe, kreischen sich gegenseitig irgendwas zu, fallen einander um den Hals und dann in die bereitstehenden Taxis, zur nächsten Party oder nach Hause in den Prenzlauer Berg, wo ihnen keiner sagen wird: Du bist ja ein Dichter.
Ich selber falle immerhin nicht kreischend in Taxis, sondern schwinge mich schweigend aufs Fahrrad, aber von der oben beschriebenen Fremdscham fällt dann wieder ein Stück auf mich selber ab, denn ich bin ja selber Teil der freibiertrinkenden Bändchen-Crowd, und auf die Radfahrerei sollte ich mir auch nix einbilden, denn Taxifahrer wollen doch nur ein bißchen Geld verdienen, bevor das selbstfahrende Google-Auto sie demnächst ins Jobcenter schickt. Sind wir also Parasiten beziehungsweise so wie Frederick, die Maus? Sollten die normalen Mäuse uns verachten? Oder bewundern?
Eins an der Geschichte von Frederick ist jedenfalls völlig falsch. Ob J.S. Bach jede Woche eine Kantate komponiert oder ein deutsches Filmteam in 22 Tagen einen „Tatort“ raushaut oder Michelangelo ein Schiff über den Berg zieht oder Werner Herzog 12 Stunden pro Tag, auf einem Gerüst auf dem Rücken liegend die sixtinische Kapelle ausmalt – Kunst (zählen wir den Tatort mal dazu) macht einen Haufen Arbeit. Indem sie das verschweigt, befördert die Geschichte von Frederick genau das, was sie bekämpfen will, nämlich das Ressentiment vom parasitären Künstler. Wäre die Geschichte realistischer, dann würde Frederick den ganzen Sommer 12 Stunden täglich am Schreibtisch sitzen und sich gelegentlich die Haare raufen, am Ende des Herbstes hätte er dann eine Tragödie in fünf Akten fertiggestellt und würde sie selbst uraufführen, die Reaktion der anderen Mäuse auf die Uraufführung wäre zwiespältig, es gäbe ein paar saftige Verrisse und ein paar wohlmeinende Worte, drei Tage später würde keiner mehr drüber reden, und Frederick würde sich auf der Berlinale-Party einer erfolgreichen Produktionsfirma frustriert die Kante geben. Aber sowas kann man Fünfjährigen ja nicht erzählen.
Die Arbeit ist ja auch nicht identisch mit der Kunst. Sie zerfällt in jede Menge Scheißjobs, die eigentlich unerträglich wären, wenn sie nicht für die Kunst wären. Teppiche schrubben ist ein Scheißjob (den ich auch schon gemacht habe, oh ja, das muß man als Kulturschaffender erwähnen, um dem Parasiten-Ressentiment etwas entgegenzusetzen) – Teppiche schrubben, weil sie Teil eines Filmsets werden sollen, ist dagegen vergleichsweise okay, denn man ist Teil eines größeren Ganzen. Und das ist keine Illusion, das ist wirklich so. Ist ja auch gar nicht so schlimm. Ohne Arbeit kein Feierabend, und Feierabend ist doch eine der prächtigsten Sachen, die der Alltag so zu bieten hat.
Was es aber auch gibt, es ist mittlerweile ein eigenes kleines Genre geworden: Der Scheißjobfilm. Im Forum läuft ein sehr schöner Scheißjobfilm, „Yarden“ von Måns Månsson. Ein erfolgloser Schriftsteller arbeitet auf einem riesenhaften Auto-Verschiebe-Parkplatz im Hafen von Malmö. Bis zum Horizont fabrikneue Audi und VW mit weißen Klebefolien und Schonbezügen. Es folgen die klassischen Elemente der Scheißjobfilmdramaturgie: Miese Bezahlung, kafkaeskes Reglement, der Mensch wird zur Nummer, Denunziation wird belohnt, irgendwann steht man vorm Pförtner und kriegt mitgeteilt, daß man gefeuert wurde, Klamotten bitte sofort ausziehen und hierlassen. Das mag alles nicht brandneu sein, aber ich mochte den Film sehr, denn ihn treibt ein bohrendes Interesse und eine ästhetische Unbedingtheit, die auch wieder sehr klar „Kunstkino“ sagt, aber egal, ich mochte ihn sehr, denn er war gut verdichtete Zeit (siehe gestern). Audi, also einer der Hersteller der Autos, aus denen der Film besteht, ist ja übrigens auch Berlinale-Sponsor und hat sich gegenüber vom Berlinale-Palast einen eigenen kleinen Palast errichtet. Ehrengäste werden in nagelneuen Audis zum roten Teppich kutschiert, dafür steht überall Audi drauf. Irgendeiner muß halt die Rechnung zahlen für die vielen Fredericks, die keine Vorräte anlegen, sondern Sonnenstrahlen sammeln. Es ist ja letztendlich nur ein Austausch von Waren: Wir produzieren „Glamour“, Audi produziert Autos, und beide Seiten des Handels geben sich gegenseitig was davon ab, weil sie jeweils mehr produzieren, als sie selber brauchen. Die Ware würde sonst nur vergammeln, also auf Autohalden in Malmö bzw. zwischen dem achten und neunten Cocktail auf Berlinale-Partys. Das ist einfach Marktwirtschaft. Also Kapitalismus. Soweit okay.
Nicht okay ist, wenn der Kapitalismus sich ganze Stadtviertel baut, die in denen er dann noch nicht mal selber wohnen will. Meine erste Berlinale im Jahr 2000 war auch die erste am Potsdamer Platz. Damals war alles nagelneu, die Berlinale-Veteranen fremdelten, aber heute, 15 Jahre später, redet keiner mehr davon, heute ist der Potsdamer Platz längst ein pulsierendes Stadtviertel, kleine Gemüsehändler sitzen vor ihren Läden, paffen ein Zigarettchen und blinzeln zufrieden in die Nachmittagssonne, im Sommer spielen die Kinder auf der Straße, aus den offenen Fenstern hört man strebsame 15jährige Cello üben, sympathische Kultur-Hipster sitzen scharenweise in irre netten Cafés – haha, saulustig, in Wahrheit ist hier: Nix. Die Hochhäuser stehen überwiegend leer. Wer in die Berlinale-Büros im 4. Stock geht und aus dem Fenster guckt, der guckt gegenüber in große leere Etagen. Die ganzen Wirtschaftsprüfer und Anwaltskanzleien und Architekturbüros, die hier mal als Mieter gedacht waren, sind anscheinend woanders. Und da wird es interessant. Denn daß der gräßliche globale Shareholder-Investoren-Kapitalismus die Fähigkeit verloren hat, lebenswerte Orte herzustellen, wie es der personengebunde Großkapitalisten-Kapitalismus vergangener Tage wohl noch konnte, das ist ja ein alter Hut. Aber daß der Kapitalismus sich in seinen Palästen noch nicht mal selber wohlfühlt, das scheint mir ein vergleichsweise neuer Hut zu sein.
Allerdings weiß ich nicht so genau, auf welchen Kopf man diesen Hut setzen sollte. Möglicherweise sollte man mit dem Kapitalismus umgehen wie mit einem Kind, dem man sagt: Tu dir nicht so viel auf den Teller, iß das erstmal auf, dann kannste dir immer noch mehr nehmen. Also, Kapitalismus, bau dir nicht so riesige Paläste, die du hinterher nicht vollmachen kannst, bau erstmal kleinere, dann kannst du die Mieten auch niedriger halten und so weiter und so fort.
Ach, schon wieder in allgemeinen Betrachtungen versackt. Gestern nochmal im Kino gewesen, „L‘Avenir“, mit Mutter und Freundin. Mutter mochte ihn, Freundin nicht, ich sitze so dazwischen. Dieser Film ist wie Frederick, die Maus. Er ist zu nichts nutze, er macht lauter feinsinnige Beobachtungen, eine nach der anderen, er ist wie Gespräch mit einer klugen Freundin, die bei jeder hochinteressanten Seitenbemerkung ständig vom Thema abkommt, er mäandert so durch seine hundert Minuten, eigentlich finde ich ihn im Rückblick doch ziemlich gut und rufe hiermit: Frederick, du bist ja ein Dichter! Und als solcher mußt du jetzt leider einen Scheißjob auf einem Autoverschiebebahnhof in Malmö annehmen.
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