Berlinale, Tag 5 – Der Film als Briefmarke auf Kniehöhe

Kino ist Heimat.
Oder, schmalziger: Kino ist ein Rückfahrticket ins verlorene Paradies. Amerikanische Hirnforscher haben nämlich herausgefunden, daß die Erinnerung an einen Film exakt in denselben Gehirnregionen abgespeichert wird wie Erinnerung an eigene Erlebnisse. Deutsche Hirnforscher haben zwar gleich danach herausgefunden, daß ich mir das nur ausgedacht habe, aber es klingt doch ganz überzeugend. Allerdings gibt es auch Filme, bei denen die Erinnerung an den Film sich deutlich von echten Erinnerungen an Selbsterlebtes unterscheidet.
Einige davon sind bei mir:

Any Given Sunday (Oliver Stone, 2000).
Der Felsen (Dominik Graf, 2002).
Unknown Identity (Jaume Collet-Serra, 2011).
Victoria (Sebastian Schipper, 2015).

Diese vier Filme (und einige andere) sind in meiner Erinnerung klein, verzerrt und auf Kniehöhe. Das liegt daran, daß ich sie im Berlinale-Palast vom zweiten Rang aus gesehen habe. Man sitzt ganz oben, der Film ist ganz unten, was eine skandalöse Umkehrung der Verhältnisse ist, denn der Film soll gefälligst auf mich herabschauen, nicht umgekehrt, und die Leinwandgöttinnen und -Götter, sie müssen überlebensgroß auf mich herabstrahlen und nicht als kleine perspektivisch verzeichnete Briefmarke irgendwo im Tiefparterre herumzappeln. Also war es mir ein Herzensanliegen, bei der Premiere von „Kreuzweg“ vor zwei Jahren fröhlich hinaufzugrüßen in den zweiten Rang und den Leuten zuzurufen: Ich weiß, wie es euch geht, ich war auch sehr oft dort oben, es ist nicht toll dort, wo ihr seid, aber um so toller, daß ihr trotzdem da seid!

Hach, ich werde nostalgisch. Ein Jahr später sitzt man dann wieder ganz oben. Oder auch ganz links außen. Nämlich da, wo sie im Friedrichstadtpalast die Zuspätkommer hinschicken. Dort guckt man dann schräg von außen auf die Leinwand, wo Julia Jentsch und Bjarne Mädel ihr zweites Kind erwarten. Wenn sie links im Bild steht, ist sie riesengroß und er winzig klein. Wenn umgekehrt, dann umgekehrt. Das halte ich nicht lange aus, ich raffe meine Sachen zusammen, hoffe, daß keine Aufpasserin mich maßregeln wird, überklettere ein Absperrseil und begebe mich ins Parkett. Dort sind zwar die Sitze steinhart und die Reihen enger als bei Ryanair, man kann hier am eigenen Leibe den medizinisch seltenen und spannenden Fall erleben, daß einem nicht nur die Füße einschlafen, sondern gleich alles vom Hintern abwärts, dafür ist wenigstens der Film schön groß, und ich bin ziemlich nah dran.

Ziemlich nah dran ist der Film aber ohnehin an seinen Leuten. Vorgestern habe ich die kategorische Forderung nach emotionaler Andock- und Mitfahrgelegenheit ja noch scharf kritisiert, heute fallen alle Schranken, und es wird nach Herzenslust angedockt und mitgegangen. Das klingt jetzt sarkastischer, als es gemeint ist. Der Film ist gut. Ich bin nicht der größte Andocker der Welt – ich möchte zwar vorn sitzen, aber emotional sitze ich nicht so weit vorn wie viele andere Leute. Ich weine auch fast nie im Kino. Ich komme nicht aus Filmen raus und bin total krass fix und alle und dehydriert und erschossen. Aber ich mag diesen Film (er heißt „24 Wochen“) trotzdem. Das wird einem ja oft nicht geglaubt. Es gibt Leute, die finden, man müsse die Wertschätzung für ein Kunstwerk durch körperliche Extremzustände unter Beweis stellen. All diesen Menschen rufe ich hiermit zu: Seid gnädig! Nicht jeder, der weniger heult als du, ist herzlos! So mancher hat nicht nah am, sondern fern vom Wasser gebaut, und doch wird ihm der Keller überschwemmt. Man sieht das dem Haus nur von außen nicht an.

Im Saal bin ich aber wohl in der Minderzahl. Die Leute kippen um. Und zwar wirklich. Irgendwann werden Rufe nach einem Arzt laut. Tumult und Getuschel. Dann geht das Licht an. War der Film so ergreifend? Oder ist vielleicht jemandem auf dem stahlharten Friedrichstadtpalastsitzen der Hintern so tief eingeschlafen, daß ein Arzt gerufen werden muß? Der Film läuft jedenfalls erstmal weiter, ziemlich lang sogar, bevor sie ihn irgendwann stoppen. Und jetzt zeigt sich ein Vorteil meiner entspannt-distanzierten Rezeptionshaltung. Die ganzen nah am Wasser gebauten Emotions-Mitgeher, die sind nämlich schlagartig weg, wenn im Saal irgendwas passiert, das noch emotionaler ist als der Film. Die drehen sich alle auf ihren Sitzen um und gucken oder machen aufgeregte Geräusche oder sind aufgewühlt und betroffen. Ich dagegen denke mir: Alles, was hier getan werden kann, wird bereits ohne mein Zutun getan. Das sinn- und respektvollste, was ich tun kann, ist einfach dem Film weiter folgen. Also tue ich das.

Im Film geht es um die späte Abtreibung eines Kindes mit Down-Syndrom und Herzfehler. Fast alle Eltern, deren Kind mit Down diagnostiziert wird, treiben ab, schon ganz ohne Herzfehler, Trisomie 21 allein reicht völlig. In meiner Verwandtschaft gab es einen Fall, bei dem die Diagnose sehr wahrscheinlich war, und die Mutter wurde von der Ärtzeschaft fast schon zum Abbruch genötigt. Sie weigerte sich, das Kind ist jetzt elf Jahre alt, will dauernd irgendwelche dämlichen Computerspiele spielen, erfreut sich aber ansonsten bester Gesundheit. Heißt alles gar nix, kann man sich ewig argumentativ dran aufreiben, bin selber mit einer behinderten Schwester aufgewachsen und finde, das muß eine Gesellschaft eigentlich hinkriegen, interessant ist aber ohnehin ein anderer Punkt, den der Film eher nebenbei abhandelt: Die wenigsten Leute, die ein Kind wegen Behinderung abtreiben, geben das hinterher zu. Die behaupten fast immer, es wäre von selber passiert. Ich finde, da liegt ein interessanter Hase im Pfeffer, den man eigentlich mal separat herausholen und braten müßte: Die Diskrepanz zwischen dem eigenen Handeln und der Erzählung, die man hinterher daraus macht.

Unser medizinischer Notfall endet dann auch mit einer Erzählung. Nach dem Film tritt jemand auf die Bühne und gibt bekannt, der Dame, die vorhin herausgetragen wurde, gehe es gut, das sei nur ein Schwächeanfall gewesen. Und ich kann mir nicht helfen, ich frage mich:  Mal angenommen, die Frau sei verstorben – würde man das auch so verkünden? Verehrte Zuschauer, die Zuschauerin, wegen der wir den Film kurz anhalten mußten, ist jetzt leider tot. Sorry. Wir haben draußen ein bißchen psychologische Betreuung organisiert. Jetzt machen wir mal eben eine Schweigeminute.

Wenn ich einen Kinosaal managen würde, in dem jemand stirbt, dann würde ich abtreiben, und wenn mein Kind behindert wäre, dann würde ich die Zuschauer anlügen. Diese doofe Vertauschung der Elemente sei ein Hinweis auf die letztendliche Sinnlosigkeit solcher Denkanstöße. Sie taugen als Anstoß für lange, tiefe, gute Lagerfeuergespräche im Pfadfinderlager. Mit anderen Worten: Als Gesellschaftsspiel. Im echten Leben ist dann eh immer alles ganz anders, viel verwirrender und irgendwas zwischen kafkaesk und bekloppt. Deswegen gehen wir ja ins Kino, da ist Erinnerung, da ist Heimat, da ist es gemütlich, ganz egal, was für schreckliche Dinge der Film schildert.

Zum Abschluß noch ein Witz, den ich aus dem heutigen Wettbewerbsbeitrag „Death in Sarajevo“ mitgebracht habe.
Ein kleiner Wurm fragt seinen Vater:
–Papa, gibt es tatsächlich Würmer, die in Äpfeln wohnen?
–Ja, mein Sohn, die gibt es.
–Papa, aber gibt es auch Würmer, die in Fleisch wohnen?
–Ja, auch die gibt es.
–Aber Papa, warum wohnen wir dann in einem Stück Scheiße?
–Mein Sohn, das ist unsere Heimat.

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