Der moderne Mensch kauft sich ein Navigationssystem, der postmoderne kauft sich keins, sondern lädt es sich aufs Handy und landet dann unter den Betonschlangen eines Autobahnkreuzes, wo eigentlich ein mexikanisches Schnellrestaurant sein sollte. Dann kehrt er um, fährt noch zweimal mit Vollgas an seinem Ziel vorbei und findet dann die richtige Einfädelstelle.
Ich befinde mich in Los Angeles als Gast der „Villa Aurora“ und penne in Lion Feuchtwangers Schlafzimmer. Darf man in Feuchtwangers Schlafzimmer überhaupt „pennen“? Oder sollte man umgekehrt diesen Ausdruck zum Zwecke der Kontrastverstärkung ganz bewußt verwenden? Ist das Gefälle zwischen Feuchtwanger und mir, ein Dreivierteljahrhundert samt Erfolg und Exil, nicht umfassend beschrieben, wenn ich sage, daß ich in seinem Schlafzimmer penne? Egal, als Radfahrer gewinnt man hier keinen Blumentopf, also muß ein Auto her. Mein alter Freund Todd, der surrealistische Theaterstücke schreibt, Schlagzeug spielt wie ein Tier und sonst eher nachdenklich ist, schrieb mir zu diesem Thema:
„Believe it or not, pre-World War II LA had the largest public transportation system in the world, but it was bought out and dismantled by the auto industry – that’s Capitalism for ya!“
Also, Autofahren im Kapitalismus. Man könnte auch eins mieten, das kostet ca 2400 Euro, die Kohle ist dann auf alle Fälle weg. Oder man kauft eins, das geht genauso ins Geld, verspricht aber Risiko und Abenteuer, und hinterher kann man es vielleicht wieder verkaufen. Bleibt nur noch die Frage: Zuverlässiger Langweiler oder geile Karre? Die Vernunft spricht sehr für einen zuverlässigen Mazda oder Toyota oder Golf. Man will ja nicht mitten in der Wüste oder in South Central liegenbleiben. Klarer Fall. Also Vernunft beiseite und her mit den geilen Karren. An Autos läßt sich nämlich die merkwürdige Alchemie der Wertschöpfung beschreiben: Erst sind sie neu und wertvoll und künden von hohem Status. Irgendwann werden sie alt und schrottig und Unterschicht. Wenn sie aber alt genug und einigermaßen gut erhalten sind, werden sie wieder wertvoll und prestigereich. Die Kunst im Umgang mit geilen Karren ist nun eben, genau an der Schnittstelle aus „schrottig“ und „schon wieder toll“ zuzuschlagen. Ob ich diese Kunst beherrsche, wird sich jetzt zeigen.
Also lande ich vor dem Restaurant, das eher ein Imbiß ist, und treffe auf Richard. Richard ist um die sechzig, wirkt vage lateinamerikanisch, spricht schwer verständlichen Akzent und lädt mich erstmal zum Essen ein. Dabei erzählt er mir, daß er in der Gegend mehrere 24-hour-restaurants betreibt und zahlreiche ältere Autos hat, die er nachts vor seinen Lokalen abstellt, damit es so aussieht, als wäre Kundschaft da. Sinn der Übung ist weniger die Ankurblung des Geschäfts, sondern Vermeidung von Raubüberfällen. Von diesen Autos will er jetzt eins verkaufen. Ich kann es mir aussuchen. Es sind zwei Mercedes, beide an die 30 Jahre alt. Aber Diesel, die gehen ja quasi nie kaputt. Was hingegen kaputtgeht, sind sämtliche Weichteile. Türgummis, Sitze, Teppiche, Armaturenbrett – alles in Auflösung. Schaltung und Kupplung scheinen auch in Auflösung zu sein. Was soll‘s, er fährt. Wir fahren zweimal um die Ecke und fädeln uns in den Stau auf dem Highway ein. Ein Sportagenfahrer winkt uns generös rein. Ein Sportwagen? Nein! Es ist ein DeLorean! Die Zeitmaschine aus „Back to the future!“ Das Zeitmaschinenauto, das aussieht wie ein plattgedrückter Golf! Was geht!
Was nicht geht: Der Mercedes. Zumindest nicht für 2000 Dollar. Richard ist wirklich nett, aber ich fahre erstmal weiter zum nächsten. Die Navi-App setzt mich vor Hausnummer 5730 ab und behauptet ungerührt, das sei die 8250. Kein Problem, man muß einfach die Straße weiter runterfahren. Wo allerdings alle 50 Meter ein Stoppschild steht. 25 Blocks, das macht 25 Stoppschilder. Irgendwann stehe ich vor einem Haus mit Wohnungen und ohne Klingelschilder. Ich rufe an. Keiner geht ran. Ich gehe erstmal einkaufen und rufe dann nochmal an. Keiner geht ran. Ich hänge ein bißchen herum und rufe nochmal an und fahre dann weiter. Und dann kommt mir ein Gedanke. Aus irgendeinem Grund schreiben viele Leute unter den Anzeigen ihre Nummer ungefähr so: 3-one-1-eight-2-2-zero-seven-7. Sollte mir da ein Fehler unterlaufen sein? Tatsächlich, da ist mir ein Fehler unterlaufen. Irgendjemand wildfremdes hat jetzt ein paar Nachrichten zum Thema Autokauf von mir auf der Mailbox.
Der Wagen steht in einer Tiefgarage und ist ein gelber alter Porsche 944. Leider ohne Türgriffe und mit leicht eingedrückter Stoßstange. Der Besitzer ist Türke, etwas jünger als ich, und wirkt recht nett. Wir sitzen nebeneinander in seinem Auto, fahren ein wenig durch die Straßen und reden so über dies und das. Dabei kommt raus: Er hat die letzten vier Jahre in Los Angeles Film studiert. Hat aber irgendwie nicht so hingehauen. Er geht jetzt zurück in die Türkei. Sein Wohnsitz wirkt recht feudal, der Porsche ist anscheinend sein Zweitwagen. Möglicherweise reiche Eltern, die jetzt den Geldhahn zudrehen? Die eingedrückte Stoßstange, das war seine Freundin, sagt er. Frauen am Steuer. Freunde am Steuer, sage ich, das geht auch mit Männern. Irgendwie ist er mir sympathisch. Er ist einer von diesen vielen Leuten, die aus ihren Heimatländern nach Amerika gehen, dort für sehr viel Geld Film studieren, dann aber hier doch nicht so richtig Fuß fassen und dann halt zurück nach Hause gehen, wo sie dann in der lokalen Branche auch nicht so richtig einen Fuß in der Tür haben und dann irgendwas anderes machen. Durch die Welt zieht ein großes Heer aus vielen tausend jungen Filmemachern, deren Namen nie jemand kennen wird, sie gehen an die NYU und die UCLA und die USC und die NYFA, manche landen auch aus Israel oder Venezuela oder Schweden in Deutschland an der HFF oder DFFB, sie versuchen es jahrelang hartnäckig und verlieren dann doch irgendwann die Energie, während neue junge hungrige Menschen nachwachsen und an sich glauben und fest überzeugt sind, daß sie etwas zu erzählen haben und die Welt sie hören wird. Und manchmal schafft es einer. Warum eigentlich? Und warum schaffen es die anderen nicht? Aber immerhin war man mal vier Jahre in Los Angeles und ist in einem gelben alten Porsche durch die Hügel gekurvt. Oder auch nur drei Monate. Ich finde das auch völlig in Ordnung. Wenn am Ende ohnehin nichts bleibt, dann bleibt immerhin diese Erinnerung. Wir steigen aus, er raucht noch eine. Der Wagen wirkt okay. Hat aber aus irgendeinem Grund keinen „Clean Title“, sondern einen „Salvaged Title“. Das passiert, wenn die Versicherung irgendwann ein Auto mal abgeschrieben hat. Angeblich kann man es damit so gut wie gar nicht verkaufen. Man muß sich das alles aus dem Netz zusammensuchen und weiß dann doch nicht, was stimmt.
Als nächstes ist ein weißer Mercedes 190 an der Reihe, irgendwo in Culver City, wo die Häuser aussehen wie Villen, aber vielleicht sind es auch einfach Häuser. Ich halte in der angegebenen Straße und sehe, wie der Wagen soeben einige Meter neben mir einparkt. Ein junger Schwarzer steigt aus. Ich nähere mich ihm und sage: Nettes Auto. Wollen Sie es verkaufen?
Er so: Nö.
Ich so: Aber genau der stand im Internet. Ich erkenne ihn an diesen glänzenden Felgen. Sieht krass gangstermäßig aus. Letzteres sage ich nicht, sondern denke es nur.
Er sagt, sein Bruder hätte auch so einen. Aber sein Bruder will eventuell auch diesen verkaufen. Er ruft seinen Bruder an. Sein Bruder sagt anscheinend ja. Er schlurft in Zeitlupentempo zurück zu dem Auto. Wir steigen ein und fahren. Der Wagen ist wie neu. Alles drin, alles dran. Allerdings für einen Mercedes erstaunlich eng. Mein Hut stößt an den Himmel, denn das, was quasi die Zimmerdecke ist, heißt im Auto ja „Himmel“. Der Wagen fährt, die Service-Belege hören vor 100 000 Meilen auf, er soll 1900$ kosten, der würde doch auch für 2500 gehen, warum so wenig? Irgendwas stimmt nicht. Oder ist das nur so ein dummes Gefühl? Alltagsrassismus meinerseits, genährt von zahlreichen Hollywoodfilmen, in denen die Gauner genauso aussehen wie der Phlegmatiker neben mir?
Weiter zum nächsten. In der Abenddämmerung lande ich in einer Gegend namens Hawthorne, direkt neben der Autobahn, wo die Häuser etwas kleiner und die Leute etwas ärmer sind. Es geht um einen Porsche 924, diesmal Baujahr 1977. Mike, der Besitzer, steht schon vor dem Haus und erwartet mich. Sein Gesicht sieht aus wie ein verwitterter Lederhandschuh, sein Porsche ist eins von zahlreichen Autos, im Hof stehen alle möglichen abenteuerlichen Gefährte herum, der Mann schraubt natürlich alles selber auseinander und zusammen. Mikes linkes Bein besteht aus Stahlteilen, was aber zwischen den vielen Autos gar nicht so sehr auffällt. Ich verstehe ihn kaum, aber er ist wahnsinnig leutselig, erzählt, daß sein Vater damals den Porsche neu gekauft hat und ihn über die Jahre sehr gepflegt hat, bis er 1996 starb. Und seitdem muß der Zahn der Zeit wirklich krass reingehauen haben. Das Auto sieht aus wie eine komplette Ruine. Als hätte ein Szenenbildner es für einen Film zurechtgemacht, in dem es die einzige Heimstatt eines mobilen Penners darstellen soll, aber dann sagt der Regisseur: Nee, das ist echt übertrieben, das glaubt uns keiner, ich mag das nicht, wenn es in Filmen so krass nach Szenenbild aussieht. Im Armaturenbrett klaffen fingerbreite Risse, alles hat sich aufgelöst, der Tüv würde in Ohnmacht fallen, aber Tüv gibt es hier ja keinen.
Mike sagt, daß er den Wagen loswerden will, weil er mit seinem Bein das Kupplungspedal nicht so recht bedienen kann. Nachdem er das Bein schon mehrmals erwähnt hat, entscheide ich mich, die Regel zu ignorieren, nach der man Behinderte nicht gleich nach der Behinderung fragt. Das war ein Motorradunfall im Jahr 1982, sagt Mike, und irgendwie ist das auch die einzig mögliche Antwort bei jemandem, desse Leben so motorgetrieben ist. Wir drehen eine Runde. Es fühlt sich an, als würde man auf einer sehr großen Teigrührmaschine fahren, und beim Schalten fühlt es sich an, als würde man im Teig rühren. So langsam fahre ich nie damit, sagt Mike, du mußt Gas geben und darfst erst schalten, wenn er bei 5000 Umdrehungen heult. 1500 Dollar, sagt Mike, denn soviel bekommt er auch als Abwrackprämie von Vater Staat, die wollen diese alten Möhren nämlich auch von den Straßen weg haben. Als ich wegfahre, dreht Mike nochmal spaßeshalber eine kleine Runde im Porsche und fährt mit dröhnendem Motor davon, das echte Bein auf dem Gaspedal, das Stahlbein auf der Kupplung.
Der nächste Kandidat wäre wieder ein Porsche, aber das Handy des Besitzers ist aus, und diesmal stimmt die Nummer. Am nächsten Tag geht es weiter mit einem Deja-Vu. Es ist wieder ein 30 Jahre alter Mercedes mit unzerstörbarem Dieselmotor und zerstörtem Interieur. Der Besitzer ist ein älterer Herr. Ich erzähle, daß ich quasi neben der Mercedes-Fabrik zur Schule gegangen bin, und er sagt:
Sin-del-fingen?
Ja! Gevatter, woher wißt Ihr das?
Er war da mal und hat sich ein Auto abgeholt. Er ist immer nur Mercedes gefahren. Diesen hier verkauft er jetzt für seinen Stiefsohn. Wir machen eine Probefahrt und kriechen im Schneckentempo auf die Autobahn. It won‘t win races, but it‘s good transportation, sagt der Mann, und ich ziehe Zwischenbilanz: Diese Leute! Sie sind alle wirklich sympathisch! Ich würde jedem sofort einen Gebrauchtwagen abkaufen, wenn es nur um den Verkäufer ginge und nicht um den Wagen.
Der nächste Termin ist in Venice, direkt am Strand, wo die Surfer surfen, die Skater skaten und die Hipster, ja, was machen die eigentlich. Der Verkäufer ist mal wieder sehr nett, etwas jünger als ich, hat diverse Texte auf den Arm tätowiert, ein klassischer Venice-Hipster, schlank und nicht übermäßig durchtrainiert, wirkt aber auf unaufdringliche Art selbstsicher, hat leichte Geheimratsecken und lange Koteletten. So genau schaue ich ihn mir erst an, nachdem er mir gesagt hat, was er von Beruf macht. Er ist nämlich Dating-Coach. Er bringt Frauen bei, wie man Männer anmacht. Das ist natürlich Quatsch, es ist umgekehrt, Joshua bringt den Mann an die Frau. Auf seiner Website heißt das „attraction expert“. Interessant, sage ich, ich bin Filmemacher, das behandelt im Grunde ein ähnliches Gebiet. Joshua hat seine Geschichte auch schon irgendwie an den Produzenten von American Pie verkauft. Aber vor allem hat da eine kleine Firma aufgezogen und gibt Anmachseminare. Diese Firma verlagert er jetzt allerdings nach Denver, Colorado, weil seine Freundin die Berge liebt und er durch diesen Umzug so viel spart, daß er oft genug nach Kalifornien fahren kann. Der Wagen ist eine dekadent fette S-Klasse, Baujahr 1982. Joshua hat ihn von der Erstbesitzerin gekauft, im Handschuhfach liegt ein dicker Stapel Reparaturrechnungen. Ich fahre ein bißchen, öffne die Motorhaube und tue so, als würde ich mich auskennen. Danach habe ich schwarze Finger und frage ihn, ob ich mir in seiner Wohnung kurz die Hände waschen kann. Wie ein echter Gentleman geht er voran und fragt erst kurz seine Freundin, ob ein Fremder mit schmutzigen Händen reinkommen darf. Die Wohnung ist für Venice Beach erstaunlich unglamourös. Oller Teppich, Zeug liegt rum, Jalousien hängen schief.
Das war‘s erstmal. Was nehmen wir jetzt? Der Typ aus Hawthorne, der gestern nicht ranging, hat geschrieben, daß sein Akku leer war. Fahre ich da jetzt nochmal hin? Oder nehme ich den weißen Gangsta-Mercedes? Oder den von Hitch, dem Date-Doktor? Ich entscheide mich erst für den weißen Gangsta-Mercedes, dann entscheide ich mich um und nehme die dekadent fette S-Klasse. Lisa, die Praktikantin aus der Villa, fährt mich netterweise hin, ich leere auf dem Weg einen Geldautomaten, dann machen wir Übergabe in der Tiefgarage. Die Freundin vom Date-Doktor ist auch da und ist Pilates-Lehrerin und ist total nett und fängt gleich mit Lisa ein so ausführliches Gespräch an, daß Lisa ihren Plan vergißt, Joshua nach seinem Beruf zu fragen. Joshua und ich zählen Geld, dann fahren wir los und beschließen, noch ins Meer zu springen, dazu parken wir Lisas Auto, sie steigt in meins ein und wir suchen einen zweiten Parkplatz, und als Lisa ins Auto steigt, sagt sie: Hier riecht‘s nach Gras.
Echt?
Stimmt.
Krass.
Oder riecht es doch einfach nur nach altem Auto?
Ich fahre jetzt also den 1982er Mercedes 300SD von Dating-Coach Joshua Pellicer, hier wäre dann auch mal seine Website, der da drin möglicherweise mal den einen oder anderen Joint geraucht hat. Am nächsten Morgen mache ich eine kleine Ausfahrt am Pazifik entlang, auf einmal ist der Tank leer, dann ist er plötzlich wieder genauso voll wie vorher, dann tanke ich ein wenig, und daraufhin ist er wieder ein wenig leerer als vorher, aber voller als leer. Das kann ja heiter werden. Wenn er mir zuviel verbraucht, stelle ich ihn einfach wieder bei Craigslist rein und gucke mir die zahlreichen Typen an, die mir möglicherweise einen Gebrauchtwagen abkaufen wollen.
One Response to Würden Sie diesem Mann einen Gebrauchtwagen abkaufen?