Ihre Majestät, die Liebe

Meine Lieblingssektion auf der Berlinale ist eigentlich jedes Jahr die Retrospektive. Früher war ja sowieso alles besser, ich kann mich außerdem des Eindrucks manchmal nicht erwehren, daß die Filme früher tatsächlich besser waren (zumindest erzählen sie nicht so oft wie das heutige Arthousekino von Protagonisten, die vorrangig um sich selber kreisen), und selbst wenn die Filme schlecht sind, sind sie historisch immer noch interessant, das ist ein unfairer Vorteil gegenüber neuen Filmen. Aus all diesen Gründen findet man mich sehr oft  in der Retrospektive.

Dieses Jahr stand sie unter dem Titel „Weimarer Kino – neu gesehen“, begleitenderweise erschien wie immer eine Publikation, und ich wurde gefragt, ob ich einen Text über Joe Mays Film „Ihre Majestät, die Liebe“ von 1931 dazu beitragen wollte. Für diese Ehre bedanke ich mich sehr herzlich bei Rainer Rother, und außerdem danke ich ihm und der Deutschen Kinemathek sehr herzlich für die Genehmigung, den Text zusätzlich hier ins Netz zu stellen. Wer ihn auf Papier lesen will (und dazu zahlreiche andere von Leuten, die als Filmhistoriker etwas satisfaktionsfähiger sind als ich): Das Buch ist im Bertz+Fischer Verlag erschienen, kostet nicht die Welt und ist eine Zierde jeder Bibliothek.

Und nun der Text.

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Wenn man „20er Jahre“ und „Berlin“ denkt, dann denkt man: Tanzlokal. In unserer Erinnerung (oder Imagination, denn wir waren ja nicht dabei) ist die ganze Stadt ein einziger Amüsiertempel. In Ruttmanns „Sinfonie der Großstadt“ kann man sich davon überzeugen, daß die Discokugel keine Erfindung unserer Tage ist. Filme aus den 20ern, hat man so den Eindruck, kennen überhaupt nur zwei Themen: Einerseits Asphalt, andererseits Amüsement. Das ist natürlich grob verkürzt und historisch nicht haltbar, aber ganz falsch ist es auch nicht: Die Arbeiterklasse haust unter haarsträubenden Bedingungen, zehnköpfige Familien sitzen in feuchten Kellerwohnungen, während die gehobene Gesellschaft es im Metropol-Theater krachen läßt. Und dazwischen die Schicht, die uns bis heute am meisten fasziniert: Die Künstler, die Schauspieler, die mittellosen Mädchen aus der Provinz, die in der Großstadt stranden und sich als „Flapper“ neu erfinden.

In dem heute komplett vergessenen Roman „Der Weg aus der Nacht“ des ebenso vergessenen Schriftstellers Edmund Kiss (der später dann durch Nähe zu den Nazis und fragwürdige germanische Geschichts- und Welttheorien von sich reden machte) wird beschrieben, wie der Ich-Erzähler die Witwe eines gefallen Kriegskameraden ehelichen will und ihm letzterer andauernd als Geist erscheint. Er verkehrt auf rauschenden Bällen, wo die bessere Gesellschaft sich die Klinke in die Hand gibt, er langweilt sich mit den Honoratioren und lauert auf den nächsten Tanz mit der Angebeteten, und währenddessen steht immer wieder ein schweigsamer toter Soldat im Raum, schaut ihn an und führt nachdenkliche Gespräche mit ihm. Und ungefähr so wird es wohl tatsächlich gewesen sein: Man feierte rauschende Bälle, auf denen die Toten unsichtbar und schweigend herumstanden. Denn der Weltkrieg, der damals noch nicht der „erste“ hieß, weil der zweite noch bevorstand, war erst ein paar Jahre her. Das industrialisierte Massaker hatte nicht nur Millionen Tote hinterlassen, sondern ebensoviele Verletzte, Traumatisierte, Versehrte, die überall zum Straßenbild gehörten. In den Bildern von Otto Dix und George Grosz springen sie uns in aller Wucht ins Gesicht, also legen wir sie im Geiste in ihre eigene Schublade, in eine Otto-Dix- und George-Grosz-Welt, irgendwie in ein separates Universum. Doch damals waren sie allgegenwärtig. Wer männlich und älter als 25 oder 30 oder 35 war (je nachdem, in welches Jahr wir uns versetzen), der hatte seine Jugend im Schützengraben verbracht und den Tod gesehen – und auch wenn er selber mit allen Gliedmaßen und Sinnesorganen heil nach Hause gekommen war, dann muß man davon ausgehen, daß eigentlich in allen das wütete, was man damals noch nicht als „posttraumatische Belastungsstörung“ bezeichnete. Die 20er Jahre waren ein Tanz auf dem Vulkan, und in diesem Vulkan brodelte eben nicht nur der bevorstehende Horror, sondern auch der vergangene.

Der Schauspieler Kurt Gerron beispielsweise wurde mit 17 an die Front geschickt, dort schwer verletzt, war danach dienstuntauglich und konnte das tun, was er eigentlich wollte, nämlich Medizin studieren. Schon im zweiten Studienjahr aber mußte er wieder an die Front, diesmal als Arzt. Drei Semester Medizin waren offenbar ausreichend. Mit 21 kam er zurück, hatte vermutliche mehr Schreckliches gesehen als der Schreiber (und sämtliche Leser) dieser Zeilen im gesamten Leben, kehrte der Medizin den Rücken und wurde Schauspieler. Weil die Kriegsverletzung aber irgendein stoffwechselrelevantes Organ zerfetzt hatte, nahm er stark zu, bekam ein unvorteilhaftes Mondgesicht und war dann halt Charakterdarsteller. Der Regisseur Joe May hatte seine ganz eigene Tragödie, die gleichwohl wenig mit dem Krieg zu tun hatte: Er hatte mit seiner Frau, der Schauspielerin Mia May, eine einzige Tochter, die dann auch Schauspielerin wurde. Im zarten Alter von 22 hatte sie schon drei gescheiterte Ehen und einen Selbstmordversuch hinter sich. Der zweite war dann vom Erfolg gekrönt. Ihre Mutter drehte danach keinen Film mehr. Welche Tragödien sich jeweils hinter diesen lapidaren Wikipedia-Fakten verbergen, kann man sich mit wenig Phantasie ausmalen.

Für einen Text, der ein federleichtes Lustspiel behandeln soll, ist das alles ziemlich weit ausgeholt – aber genau das ist der Hintergrund, vor dem dieser Film entstand und vor dem man ihn vermutlich sehen sollte. Der eben erwähnte Kurt Gerron sitzt in der ersten Szene in einem Tanzlokal (wo sonst) am Tresen als einer von drei Herren, die der hübschen Bardame spaßhafte Komplimente zuwerfen und über die Unterteilung zwischen Frauen, Damen und Weibern schwadronieren. Joe May ist der Regisseur, und von all diesen Schrecklichkeiten ist im Film einfach keine Spur zu sehen. Es geht um die Wellingen-Motorenfabrik, beziehungsweise deren Besitzer, die Familie von Wellingen, deren Personal aus lauter Klassikern der Theaterklamotte besteht: Der geschäftstüchtige Patriarch, dessen lebensfrohe Tochter, die mit ihrem Gymnastiklehrer durchbrennen will, die komische Oma, der hoffnungslos vertrottelte Onkel und der jugendfrische Held, der die familiären Bande abstreift und für den es nur eine Majestät gibt, nämlich die Liebe.

Und der ist natürlich unser Mann. Fred von Wellingen heißt er, und eigentlich hat er gar nichts gegen seine Familie, so degeneriert sie auch ist. Die mit dem Reichtum einhergehenden Annehmlichkeiten nimmt er gern mit, Rebellion ist nicht sein Ding, und auch gegen Karriere hat er nichts einzuwenden, eine gutdotierte Stellung als Generaldirektor der Wellingen-Motorenfabrik wäre ihm schon recht, warum denn auch nicht. Aber dafür soll er irgendeine reiche Erbin heiraten, so will es die Familie, und darauf hat er keine Lust. Lieber macht er der schönen Bardame den Hof, und um die Verwandtschaft zu ärgern, macht er ihr sogar kurzerhand einen Heiratsantrag. Die Dame ist hinwiederum nicht nur love interest, sie hat ihr eigenes Leben sowie einen alten Ungarn als Vater, der in einem früheren Leben mal Zirkusartist war und deswegen mit einem großen Sprung ins bereitstehende Auto hineinhopsen und vor versammelter Mannschaft mit Tellern jonglieren kann, die dann aber doch alle zu Bruch gehen, was dann wieder den Graben zwischen ihm und der besseren Gesellschaft zementiert. Eine Verbindung mit einer solchen Person darf es nicht geben, also wird das geplante Verlobungsbankett kurzerhand zur Beförderungsfeier für unseren Helden umfunktioniert. All seine materiellen und Karrierewünsche sollen erfüllt werden, wenn er auf die Ehe verzichtet. Und erstaunlich bereitwillig, wenn auch traurigen Herzens, geht er darauf ein und läßt sich in den Dienst des zusammenzuhaltenden Familienvermögens spannen. Woraufhin der depperte Onkel, der bei aller Vertrottelheit scharf erkannt hat, daß das Mädchen mehr Substanz hat als der ganze verkommene Familienclan, seine Chance gekommen sieht und sie mit Heiratsanträgen und Blumensträußen überschüttet, was dann wiederum Anlaß für diverse Slapstickeinlagen bietet.

All das anzusehen ist eine helle Freude, wie man sie heute im deutschen Film kaum mehr hat (und im internationalen auch selten). Die Figuren sind präzise gezeichnete Witzfiguren – klingt einfach, muß man aber erstmal hinkriegen. Und wie jede wirklich gute Komödie gibt es hier kein größeres Thema, keine Erlösung für alle und kein Rezept zur Rettung der Welt. Die Tragödie will uns weismachen, es gäbe ein Jenseits, eine bessere Welt, in der man das erreichen kann, was einem hier verwehrt bleibt, da begegnet sie sich mit den Religionen und Ideologien, mit Sozialismus und Nationalsozialismus, die sich damals schon in den Straßen die Köpfe einschlugen und kurz darauf die Welt in Brand steckten – sie waren und sind unterschiedlich und auch unterschiedlich schlimm, aber alle wollen sie uns etwas von besseren Welten erzählen, für die man kämpfen und sich im Zweifelsfall opfern muß. Die Komödie weiß dagegen: Alles Quatsch. Sie macht sich keine Illusionen. Es gibt nur das Private, und das ist eben nicht politisch. Das Wahre, Gute und Großartige existiert nicht in irgendeiner besseren Welt, sondern hier vor unserer Nase, und man muß zugreifen, sonst ist es weg.

Man bezeichnet solche Filme gemeinhin als „leicht“. Sind sie ja auch. Aber es ist die Leichtigkeit, die in den Abgrund geschaut hat. Sie kommt von Leuten, die wirklich wußten, was schwer war, und die auch hinterher wieder bitter erfahren sollten, wie recht sie hatten mit ihrer Botschaft, das Glück im Moment zu suchen und festzuhalten. Joe May floh vor den Nazis nach London, dann weiter nach Hollywood, wo er jedoch nicht mehr richtig Fuß fassen konnte. Er war in seinen letzten Lebensjahren auf Almosen alter Freunde angewiesen und starb verarmt am 29. April 1954, zwei Monate bevor ein aus Ruinen auferstandenes Wirtschaftswunderland wieder Fußball-Weltmeister wurde. Kurt Gerron war Jude und wurde von den Nazis ins KZ gesteckt, wo sie ihn zwangen, einen Propagandafilm über Theresienstadt zu drehen, dann wurde er nach Auschwitz gebracht und noch am selben Tag vergast. Otto Wallburg, der den Familienpatriarchen spielt, emigrierte erst nach Österreich, dann in die Niederlande, wollte weiter in die USA, versteckte sich vor den Deutschen, wurde denunziert und verhaftet und deportiert und ebenfalls in Auschwitz ermordet. Otto Kanturek, der Kameramann, emigrierte nach England und starb 1941 bei den Flugaufnahmen für einen Fliegerfilm namens „A Yank in the R.A.F.“, als zwei Flugzeuge in der Luft kollidierten. Andere hatten mehr Glück: Franz Lederer, der den jungen Helden spielt, ging schon 1932 nach Amerika, machte dort keine spektakuläre, aber ordentliche Karriere und starb mit 100 Jahren in Palm Springs, Kalifornien, im Jahr 2000. Er war einer der letzten Überlebenden der Österreichisch-Ungarischen Armee des 1. Weltkriegs. Was er da so alles erlebt hat, weiß keiner und wird nie jemand wissen. Hoffen wir einfach, daß ihre Majestät, die Liebe, immer für ihn da war.

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