Schon wieder Berlinale

Vor einigen Monaten machte ein offener Brief die Runde, in dem 80 deutsche Filmemacher und Regisseurinnen einen Neuanfang sowie ein transparentes Verfahren bei der anstehenden Neubesetzung der Berlinale-Leitung forderten. Ich war einer davon. Danach entstand viel Wind, und auf einmal ging es nur noch um eine einzige Person.

Das ist schade, denn die ganze Sache drehte sich (genau wie die ganze Berlinale) gar nicht in erster Linie um Dieter Kosslick, sondern um die Frage, wie es nach ihm weitergeht, und die Frage, was der ganze Laden überhaupt ist oder sein könnte.

Ja, was ist die Berlinale? Und was ist eigentlich ein Filmfestival?
Machen wir es kurz: Filmfestivals sind religiöse Rituale, genau wie olympische Spiele, Rock am Ring oder die Donauschinger Musiktage. Es gibt jeweils ein abgegrenztes Tempelareal, es gibt eine Priesterkaste, die dem Volk sagt, was gut und schlecht ist, es gibt Heilige, die verehrt werden, es gibt einen Hohepriester, der über allem thront, und es gibt ein zentrales Ritual, das oft bleiern langweilig ist. Wer je ein katholisches Hochamt oder die Cannes-Premiere eines Films von Apichatpong Weerasethakul über sich ergehen ließ, der weiß, wovon ich rede. Aber genau das ist ja der Trick: Gerade das gemeinsame stundenlange Absitzen schweißt die Gläubigen zu einer verschworenen Gemeinde zusammen. Letzteres habe ich mir nicht ausgedacht, das haben Soziologen herausgefunden, und auch daß am Ursprung der Religion nicht der Glaube, sondern die Feier steht, haben klügere Leute als ich schon festgestellt. Wir glauben hier nicht an personifizierte Götter im Jenseits, aber wir feiern abstrakte Größen, die dem Leben zumindest eine Illusion von Sinn verleihen:
Der Sport. Die Musik. Das Kino.
Das sind die Götter, die hier jeweils verehrt werden.
Die Berlinale ist sehr vieles zugleich, aber das ist ihr Kern, behaupte ich. Und da liegt auch die Magie, die Kino haben kann, wenn es heutzutage überhaupt noch Magie hat: In der Feier und im kollektiven Erlebnis. Alles kommt an einem Ort zusammen. Der Rest ist nett, aber Netflix ist auch nett.

Wenn sich also 80 Filmemacher und -innen zusammentun und so einen Brief schreiben, dann aus dem gemeinsamen Gefühl heraus, daß da etwas nachgelassen hat.
Aber auch das hat noch nicht notwendigerweise etwas mit Dieter Kosslick zu tun. Sondern genausogut mit dem allgemeinen Lauf der Welt. Das 20. Jahrhundert hat drei große Mythen hervorgebracht: Kino, Automobil und Popmusik. Alle drei sind am Verblassen. Dafür haben wir jetzt Internet, Games und Serien. Auch sehr schön. Aber es gibt sie ja noch, die Filme, von denen die ganze Welt jeweils ein Jahr lang redet: Un Prophète, Das weiße Band, Toni Erdmann, The Square, Drive, Birdman. Filme, die den Spagat schaffen zwischen den immer weiter auseinanderklaffenden Kontinenten „Unterhaltung“ und „Kunst“. Die meisten davon laufen in Cannes. Einige in Venedig. Manchmal auch einer in Berlin. Aber der Abstand ist spürbar und meßbar.

Nun ist die Berlinale aber nicht nur eine Leistungsschau der Speerspitzen des Weltkinos, sondern zugleich ein riesengroßes Publikumsfestival. Die ganze Stadt ist auf den Beinen und rennt auch noch in die obskursten Filme. Das ist toll, das gibt es weder Venedig noch Cannes, und es ist auch dem Kino sehr gemäß, denn Kino ist ja nicht nur Kunst und Tempel, sondern auch Jahrmarkt und Budenzauber. Vielleicht ist die Berlinale mit dieser Doppelnatur sogar weltweit das Festival, das den Geist des Kinos am besten einfängt.

Der Festivalleiter muß aber auch mindestens eine Doppelnatur sein: Er oder sie sollte künstlerisch den klaren Zugriff haben, zugleich bestens vernetzt sein, ein Team führen können, den gutgelaunten Gastgeber spielen und so weiter – und außerdem muß er auch noch die Sponsoren klarmachen und bei Laune halten. Das vergißt man gern. Niemand schreit „Hurra, Audi“, aber ohne die Millionen von denen wäre das Festival in dieser Form nicht machbar.
Alles nicht so einfach.

Wenn es bei den 80 Unterzeichneten überhaupt einen gemeinsamen Nenner gab, dann vielleicht das Gefühl, daß die Idee vom Kino als Ort, der alle zusammenbringt und alle vereinigt, auf der Berlinale in den letzten Jahren ein wenig vernachlässigt wurde zugunsten der in alle Richtungen wuchernden Vielfalt. Es gibt Nebenreihen für alles mögliche. Das hat sicher seine Berechtigung und ist auch ein Zeitphänomen. Aber man könnte mit denselben Impulsen auch andere Lösungen finden. Nur ein Beispiel: „Generation 14plus“. Die Reihe wurde gegründet, weil man feststellte, daß zwischen dem alten „Kinderfilmfest“ und der Erwachsenen-Berlinale eine Lücke klaffte. Also machte man eine eigene Reihe mit Filmen für Jugendliche. Die funktioniert auch bestens. Tolle Sache, denkt man da, doch gleich darauf denke ich: Moment mal, was wollte ich mit 14 sehen? Filme für 14-jährige? Um Gottes Willen, nein. Ich wollte natürlich Filme für Erwachsene sehen. Also, anstatt der Jugend ihr eigenes Festival im HdKdW zu machen, könnte man genausogut die fünf oder acht 14plus-Filme, die es verdient haben, in erwachsene Sektionen hieven, wo sie mehr Aufmerksamkeit kriegen, und zusätzlich quer durchs Festival 20 Filme benennen, die für Jugendliche okay sind, selbige irgendwie durch die FSK kloppen und dann die Jugend ins große Festival hineinholen, anstatt sie wegzuschicken.

Es sind zwei unterschiedliche Ansätze. Jeder muß wissen, was er besser findet. Aber es gibt Grund zu der Annahme, daß der Publikumsfestival-Gedanke, wenn man ihn zu sehr betont oder sich darauf ausruht, auf Kosten der Faszination geht. Also der Gottheit Kino. Der Traum, einen Wahnsinnshammerfilm zu sehen, der einen packt und schüttelt und nicht kaltläßt, von dem jeder erzählt und den man gesehen haben muß, von dem man noch Tage später redet und den man sich Monate später im Kino nochmal anschaut. Oder den man dann vielleicht auch gräßlich überschätzt und überhypt findet.

Diese Erzählungen sind es, die ein Festival unvergeßlich machen. Und ich kann mich nicht des Eindrucks erwehren, daß sie weniger geworden sind. Gerade im Wettbewerb war in den letzten Jahren vieles ganz nett und vieles irgendwie egal.
Und wenn dies ein Song wäre, dann wäre das der Refrain:
Auch daran ist nicht unbedingt Dieter Kosslick schuld. Und selbst wenn, dann führt man die Diskussion sinnvoller zur Sache als zur Person.

Zumindest die Gelegenheit für eine Kurskorrektur wäre aber da, denn die Neubesetzung steht an. Und da lag auch der Kern dieser Aktion, oder zumindest der hauptsächliche Grund, warum ich mitgemacht habe. Man hat nämlich in der Berliner Kulturpolitik in den letzten Jahren mit Volksbühne und dffb zwei Personalentscheidungen gesehen, die nicht ganz so gut liefen. Beide Male wurde intransparent irgendwie hinter verschlossenen Türen beschlossen, was an der dffb zu einem regelrechten Krieg mit den Studierenden führte. Zur Kosslick-Nachfolge kochte eine unglaubliche Gerüchteküche, jeder trompetete irgendwelche unbewiesenen Behauptungen durch die Gegend, und man konnte kommen sehen, daß die Politik irgendwann jemanden aus dem Hut ziehen würde, der dann halt für die nächsten 20 Jahre da sitzen würde.

Dieser offene Brief sagte also vor allem: Wir haben hier ein zentrales Interesse daran, daß jemand gutes auf diesen Posten kommt, und wir wollen ein transparentes Verfahren. Und wir sagen überhaupt erstmal „Wir“. Das ist ja selber schon eine Nachricht.

Der einzige wirkliche Fehler, den ich hier sehe, war die exklusive Erstveröffentlichung auf Spiegel Online. Das hätte ich persönlich anders gemacht. So bekam das Ganze von Anfang an die dumme Schlagseite zur persönlichen Abrechnung, und dann brach Hysterie aus. Einige Journalisten schrieben das, was sie immer schreiben, nämlich daß der Festivalleiter eine Fehlbesetzung sei und weg müsse, dann meinten andere Leute, sie müßten ihn dagegen öffentlich in Schutz nehmen, jemand behauptete, Kosslick habe bei Amtsantritt das Budget der Retrospektive halbiert, und übersah dabei die Umstellung von DM auf Euro, in Blickpunkt Film erschien auf ähnlichem Niveau ein dummdreistes Editorial, auf Critic.de kam eine elegante Erwiderung, einige der Unterzeichner ruderten zurück und fühlten sich falsch verstanden, irgendwann mochte sich überhaupt niemand mehr äußern.

Ich fand das nicht toll, aber auch nicht gar so schrecklich. Als Reaktion auf Hysterie sollte man nicht selber auch noch hysterisch werden. Wenn man wirklich etwas bewegen will, wird man immer irgendwelche Leute vor den Kopf stoßen. Das ist aber nicht so schlimm, denn die beruhigen sich dann auch wieder. Im BKM wurde unser Ruf jedenfalls gehört, und das Verfahren findet jetzt unter großem öffentlichen Interesse statt. Der Ruf nach einer unabhängigen Findungskommission hingegen wurde nicht erhört. Die Satzung gibt das anscheinend nicht her. Eine Kommission, die einen Vorschlag machen kann, wäre vermutlich drin, ist aber anscheinend nicht gewünscht. Stattdessen wurde eine große Runde an Filmleuten zu einem Beratungsgespräch zusammengerufen. Ich wurde auch gefragt und ging hin. Das Gespräch verlief freundlich und offen. Zu früh für ein Fazit, aber erstmal ganz okay gelaufen, würde ich sagen.

Nicht okay finde ich, wenn die Sache dann auch auf der anderen Seite ins Persönliche gezerrt wird. Im Spiegel erschien ein Artikel, in dem Christoph Hochhäusler als Initiator der Aktion benannt und als „Intrigant“ bezeichnet wird. Ersteres ist falsch, denn er war nicht der Initiator, letzteres ist unverschämt. Hochhäusler ist einfach ziemlich gut vernetzt und hatte daher Kontakt zu vielen Leuten. Ich selber bin auch halbwegs gut vernetzt und habe die Leute ins Spiel gebracht, denen ich mich verbunden fühle, also Mumblecore & co. Andere haben wieder andere angesprochen. Es war ein großer, lange und guter Gedankenaustausch. Ein Journalist, der einen offenen Brief mit einer Intrige verwechselt, sollte mal seine Terminologie in Ordnung bringen. Und nochmal: Unter diesem Schreiben stehen 80 Namen. Die stehen da nicht einfach so. Da könnte man sich ja mal sachlich mit auseinandersetzen, anstatt einen herauszugreifen, der ein paar Mailadressen hatte. Ich bin ja künstlerisch kein besonderer Freund der Berliner Schule, aber ihre Protagonisten sind durchweg kluge und integre Leute, die nicht von ungefähr in der Filmwelt hierzulande eine Rolle spielen.

Und ganz generell finde ich: Man sollte in einer Demokratie in der Lage sein, zwischen Kritik und Majestätsbeleidigung zu unterscheiden. Wir als Filmemacher werden ja auch dauernd kritisiert. Ein ganzer Berufsstand hat sich danach benannt. Da können wir dann beleidigt sein oder halt nicht. Es würde außerdem helfen, wenn öffentliche Ämter hierzulande, angefangen im Kanzleramt, zeitlich begrenzt wären, denn unbegrenztes Verweilen in einer Machtposition begünstigt Entwicklungen hin zum Feudalismus. Zu leicht verwechseln Menschen dann ihr Amt mit sich selbst, lassen andere nach Gutdünken in Gnade und Ugnade fallen und werden selbstherrlich. Daraufhin hat der Untertan dann wiederum Angst, überhaupt irgendwas zu sagen, wenn die eigene Existenz von der Gunst der Förderchefin, des Festivaldirektors oder der Fernsehredakteurin abhängig ist. Man beißt ja nicht in die Hand, von der man sich weitere Fütterung erhofft.

Aus irgendeinem Grund ist mir das aber egal. Deswegen habe ich auch Interviews zum Thema nicht abgelehnt, und deswegen schreibe ich diese Zeilen. Wir leben in einer Demokratie, und wir leben für die Kunst. Hier wie dort hat man für mein Gefühl die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, aus seinem Herzen keine Mördergrube zu machen. Es muß doch möglich sein, sich öffentlich zu komplexen Sachverhalten in der angemessenen Komplexität zu äußern, ohne Angst zu haben. Niemand ist vor Fehlern gefeit, niemand macht alles richtig, niemand ist gegen Kritik immun, und alles kann und sollte offen diskutiert werden. Vor allem dann, wenn man der saudoofen Versuchung widersteht, alles auf die persönliche Ebene zu ziehen.
Das sind gute Nachrichten.
Machen wir etwas daraus.

Soll ich am Ende doch noch was zu Dieter Kosslick sagen? Schwierig, denn ich kenne ihn kaum. An seiner Arbeit finde ich vieles großartig. Berlinale Talents: Wundervoll. Kiez-Reihe: Tolle Idee. Das und vieles mehr steht dem Festival gut zu Gesicht. Aber persönlich kenne ich ihn nur von ein paar Mal Händeschütteln. Irgendwo ist das seltsam, denn die Leiter anderer Festivals lernt man als Filmemacher meist irgendwie näher kennen, was dann gelegentlich zu einer solidarisch-lockeren Freundschaft führt. Vermutlich haben die auch weniger um die Ohren als der Berlinale-Leiter. Aber vielleicht ist da wirklich ein Defizit, was den Kontakt zur Filmszene im eigenen Land betrifft. Es hat ja auch keiner der vielen Unterzeichner gesagt: Moment mal, den Dieter ruf ich jetzt mal an, den kenne ich doch von zahlreichen gemeinsamen Bieren.

Eigentlich ist das schade.
Vermutlich sollten wir alle mal mit Dieter Kosslick einen draufmachen.

Vielleicht ergibt es sich ja heute abend, denn da eröffnet die Berlinale, und da gehe ich jetzt hin. Und sollte Kosslick vor mir stehen, dann werde ich ihm die Hand schütteln, ihm von Herzen einen schönen Abend und ein schönes Festival wünschen und mich für die Einladung bedanken. Wie man das so macht unter zivilisierten Erwachsenen in einem schönen, demokratischen Land.

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