Wir sind Zwerge, die auf den Schultern von Riesen stehen. Unsere Vorfahren waren tolle Kerle, die haben den Kölner Dom gebaut und die Zauberflöte komponiert, wir machen eher so 3-Minuten-Popsongs und bauen kaputte wilhelminische Schlösser wieder auf. So sieht‘s aus. Aber daß es so aussieht, heißt ja noch lange nicht, daß es auch so ist. Könnte ja auch eine perspektivische Illusion sein. In der gelebten Erinnerung wird das Vergangene kleiner, in der Kunst wird es größer. Man kann das am eigenen Leibe beobachten: Letztes Jahr habe ich es irgendwie geschafft, jeden Tag emsig mein Berlinale-Blog vollzuschreiben. Dieses Jahr ist mir komplett schleierhaft, wie ich das eigentlich geschafft haben soll. Wo hab ich verdammt nochmal die Zeit hergenommen? In ehrfürchtigem Staunen stehe ich vor meinem eigenen Werk wie ein Zwerg auf der Schulter eines Riesen, also auf meiner eigenen.
Das ist aber eigentlich immer so. Wenn man irgendwas gemacht hat, das auch nur halbwegs irgendwie anstrengend war, dann würde man auf keinen Fall nochmal machen. Also ich zumindest. Eigentlich bin ich nämlich faul.
Die Berlinale ist schon halb vorbei und ich bin immer noch dabei. Das ist allein schon toll. Man wird immer irgendwann krank. Gnadenlos schlägt die Grippe zu. Die Bären-Verleihung vor drei Jahren habe ich im Fieberdelirium durchschwebt. Es war eine Out-of-Body-Experience, ich sah die Menschenmenge von oben und mich selber da unten irgendwie komatös herumlaufen. Dieses Jahr wird entschlossen dagegen vorgegangen. Erste Maßnahme: Keine Hände mehr schütteln. Stattdessen Ghetto-Faust. Oder gleich Umarmung. Beim Film wird ohnehin viel umarmt. Ich finde das völlig in Ordnung. Griesgrämige Kolumnen könnte man schreiben über die Inflation des Umarmens, die Aushöhlung einer innigen Zuneigungsbekundung, die am Ende gar nix mehr bedeutet, wenn jeder sie bekommt, ich sehe vor meinem geistigen Auge spaltenlange umarmungskritische Glossen im FAZ-Feuilleton und rufe: Haltet ein! Vergeudet nicht eure Lebensenergie auf das Kritisieren der Umarmungsinflation anderer Menschen! Laßt sie sich doch umarmen! Umarmt selber mal wen! Beispielsweise eure abgehärmte Sekretärin, die seit 54 Jahren am selben Schreibtisch sitzt! Ja, so stelle ich mir das FAZ-Feuilleton vor, da sitzen schlechtgelaunte alte weiße Männer und beschweren sich im sauertöpfischen Kulturperssimismus-Klageton über die Bussi-Umarmungs-Schickeria, während die Sekretärin auf ihrer Triumph-Adler Leserzuschriften von Rainer Barzel beantwortet. Das ist natürlich ein schreckliches Klischee, in Wahrheit weiß ich nix vom FAZ-Feuilleton, und außerdem bitte nix gegen alte weiße Männer! Ich werde wohl oder übel mein eigenes Leben als solcher beenden müssen, falls ich nicht fassbindermäßig krass früh abtrete, aber dafür ist es eh zu spät, also würde ich mich ja selbst ins zukünftige Knie schießen, wenn ich jetzt auch noch auf alten weißen Männern herumhacken würde.
Eigentlich wollte ich ja auch gar nicht über die das FAZ-Feuilleton herumspekulieren, sondern nur das Händeschütteln verurteilen – oder vielmehr um Verständnis werben, wenn ich keine Hände mehr schüttle. Es ist kein sozialer Affront, es ist Notwehr gegen den Virenbeschleuniger Berlinale. Wir, also die Gesamtheit der Berlinale-Besucher, sind wie eine Million Hühner in eine dieser gräßlichen großen Tierfabriken. Wenn die Influenza-Subtypen H3N5 und R2D2 eines Tages in irgendeinem nichtsahnenden Organismus die entscheidende Gensequenz austauschen und dabei das Killvervirus herauskommt, das die Menschheit ausrottet und damit sämtliche Probleme dieses Planeten löst, dann wird das vermutlich hier auf der Berlinale geschehen, weil die Leute zu viel Hände geschüttelt haben. Also: Ich plädiere für die sogenannte Ghetto-Faust. Saudämlicher Name, ich weiß keinen besseren, aber es ist eigentlich ein stilvoll-beiläufiges Begrüßungsritual. Vielleicht könnte das so ein allgemein anerkanntes Berlinale-Ritual werden.
Ein anderes Berlinale-Ritual, das ich mir wünsche, wäre der Trailer-Flashmob, die große La-Ola-Welle auf der orgasmischen Bären-Stern-Explosion. Da müßte doch eigentlich der ganze Saal jedesmal aufspringen und Konfetti werfen. Oh ja, das wäre majestätisch: Bevor es losgeht, reißt jeder seine soeben entwertete Eintrittskarte in kleine Stücke, und auf dem Höhepunkt des Trailers werfen alle alles in die Luft. Es wäre der Alptraum der Kinobetreuer. Es würde hinterher aussehen wie Sau. Also vielleicht einfach Hüte hochwerfen. Früher, als die Herren noch Hüte trugen, war es allgemein bekannte Zustimmungspraxis, daß alle gleichzeitig ihre Hüte hochwarfen. Das muß jedesmal toll ausgesehen haben. Wenn dann alle versucht haben, ihren jeweiligen Hut wieder einzufangen, und sich dabei das Nasenbein am Schädel des Nachbarn einrannten, war bestimmt auch toll.
So, was schreibe ich jetzt als nächstes? Kommt er noch, der rote Faden? Das habe ich mich auch schon in diversen Filmen gefragt. Und bei sämtlichen Reden, die immer überall gehalten werden. Ich wünsche mir, daß das Vereinte Königreich uns mal bitte eine Truppe von dreißig oder fünfzig Redenschreibern schickt, die hier für die nächsten dreißig, ach, dreihundert Jahre alles nachhaltig aufmischt und den Leuten beibringt, wie man kurz und knapp und stilvoll und prägnant und witzig und präzise öffentlich redet. Es ist nämlich ein fortdauerndes Grauen. Am Vorabend der Berlinale, letzte Woche, durfte ich Klavier spielen bei einer Gedenkveranstaltung für Carl Laemmle. Also ein bißchen stummfilmbegleiten. Das pasierte eher so nebenher, beim Empfangscocktail, denn hinterher im offiziellen Programm war keine Zeit, da mußten Reden gehalten werden. Ich will die Veranstalter hier auf keinen Fall kritisieren, ich freue mich sehr über jede Stummfilmbegleiterei, die ich machen darf, aber ich kritisiere die Redner in schneidender Schärfe. Und zwar alle. Leute, das geht so nicht. Das ist stillos, formlos und letzten Endes auch respektlos dem Anlaß und dem Publikum gegenüber. Außerdem ein kleiner Hinweis: Ein schlechter Witz ist dann, wenn keiner lacht. Und dann kommt noch hinzu, daß zur Zeit alle aufgeregt herumflattern wie aufgescheuchte Hühner und in einem fort gackern: Rechtspopulismus, Brexit, AfD, Trump! Ja, meine Damen und Herren, gewiß doch. Wir leben in aufregenden Zeiten, um das mal bewußt wertneutral zu formulieren. Da bringt es aber nix, wenn wir alle dauernd „Trump“ gackern und uns gegenseitig bei einem Glas Sekt und gräßlicher lauter Musik ins Ohr schreien, daß wir politischer werden müssen.
Es ist doch eigentlich ganz einfach: Politik will etwas. Mehr Frauen an die Front, mehr Geld für Kitas, Brot statt Böller. Wenn das Ziel erreicht ist, ist das Ziel erreicht. Kunst will nix, oder nur Sachen die nicht erreichbar sind, wie z.B. die Verherrlichung Gottes (Bach, Matthäuspassion) oder besserer Schlaf für irgendeinen Fürsten (Bach, Goldberg-Variationen). Was Kunst will, das ist frei verhandelbar. Kunst reißt die Barriere ein zwischen Mensch und Mensch, zwischen Mensch und Welt, zwischen Mensch und Universum – und letzten Endes auch zwischen dem Menschen und sich selbst. Kunst kann mir helfen, aus mir selbst herauszusteigen und die Welt mit anderen Augen zu sehen und mit anderen Ohren zu hören. Das kann ausgesprochen politisch sein – aber wenn es sich im Politischsein erschöpft, dann ist das eine schlimme Vergewaltigung dessen, was Kunst eigentlich sein kann. Kunst ist nämlich letzten Endes abstrakt. Die zwei Klavierkonzerte von Brahms (oder die vier von Rachmaninov) sagen nichts, beweisen nichts, erklären nichts. Sie sind etwas. Sie haben genausoviel Sinn wie ein Berg oder ein Baum. Sie verbessern nicht die Welt, sie sind ein Stück verbesserte Welt (dieses Argument habe ich tatsächlich von Michael Ende). Und aufgepaßt, jetzt kommt‘s: Film ist im Kern auch abstrakt. Das, was wir im Kino eigentlich suchen, das ist nicht die Handlung oder die Schauspieler oder die Bilder oder die Töne. Nein, es ist das, was sich daraus ergibt, was größer ist als die Summe der Teile. Ein großer Film ist wie ein großer Berg. Er ist ein Stück Welt, und es ist ein Erlebnis, ihn zu besteigen und von neuer Perspektive auf die Welt zu schauen.
Übrigens habe ich das Gefühl, daß das früher besser ging. Deswegen renne ich auch dieses Jahr wieder fortdauernd in die Retrospektive, stelle mich zwergenhaft auf die Schultern von Riesen und genieße die Vergangenheit. Soll die Gegenwart doch erstmal beweisen, daß sie das auch kann, was damals ging. Und übrigens sind die alle zumindest implizit politisch, die Filme, die man da sieht. Weil sie nämlich gut sind und nicht blind für die Welt und Zeit, in der sie entstanden sind. Das reicht ja eigentlich schon.
Schluß jetzt, muß ins Kino. Vielleicht blogge ich weiter. Vielleicht auch nicht. Wer ansonsten was über die Berlinale wissen will, möge das Buch „Zehn Tage im Februar“ von Heike-Melba Fendel lesen, da steht alles drin. Ich bin mit der Autorin befreundet, aber das ist entstanden, weil ich ihre Texte und Gedanken mag, nicht umgekehrt, also kann ich das hier schrankenlos öffentlich feiern. In der FAZ stand über dieses Buch, die Autorin breite da ihren Männerhaß aus. Das ist so blödsinnig, daß ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. Vielleicht muß man sich das FAZ-Feuilleton ja doch so vorstellen wie in meiner obigen Phantasie. Kritiker sind aber ohnehin ein seltsames Volk. Oft rennen sie alle in dieselbe Richtung wie eine Herde Schafe, immer dem Hype hinterher, und merken es nicht einmal. Manchmal sind sie komplett blind fürs Offensichtliche, so wie damals bei „Starship Troopers“. Dann haben sie ihre Vorlieben und Abneigungen, man ist halt entweder Feuilleton-Liebling oder nicht.
Also, das Buch ist gut und ich mag die Autorin. Wäre ersteres nicht der Fall, dann hätte ich jetzt ein arges Problem. Man kommt nämlich in unauflösbare Zwickmühlen, wenn Leute, deren Arbeit man feiert und die man innig liebt, einen in ihrer Arbeit enttäuschen. Das ist schlimm, ich bin da immer ganz hilflos und schweigsam wie ein Kind, dem man das Spielzeug weggenommen hat, aber letzten Endes ist es dann auch egal, man wechselt das Thema und geht feiern – oder führt lange, ehrliche Gespräche. Ersteres ist vielleicht eher die amerikanische Variante, ersteres die deutsche.
Verdammt, ich muß echt los. Ende der Durchsage.
One Response to Berlinale, erste Hälfte