Ein Freund von mir heißt mit Nachnamen “Künstler”, das ist kein Pseudonym, er heißt wirklich so, und er ist auch wirklich Künstler. Ein junger Filmemacher namens Werner Stipetič hingegen dachte sich in den frühen 60er Jahren, dass mit dem dem Namen seines irgendwie entschwundenen Vaters vermutlich mehr Regiekarriere zu machen sei, und deswegen kennen wir ihn heute als Werner Herzog. Wer schon in so jungen Jahren eine so souveräne Marketingentscheidung in eigener Sache trifft, dem gönne ich jeden Welterfolg. Ich selber war mit 20 leider nicht annähernd so souverän, sonst hätte ich mich vielleicht “Dietrich Herzog” genannt, allerdings hieß so schon der Vater von Werner Herzog, also vielleicht lieber “Herzog Dietrich” oder ganz anders, beispielsweise “Benjamin Blümchen” oder “Emma Dilemma”. Im Abspann eines Berliner-Schule-Berlinale-Films sah ich mal einen Fahrer namens “Kerl Fieser”, da dachte ich, welch Laune der Natur, aber es war eher eine Laune der Kultur, denn der Produzent war anscheinend ein alter Punk und hat da einfach ein paar seiner Kumpels untergebracht. Natürlich heißt niemand Kerl Fieser.
Wohlklingende Namen hat man entweder in nächster familiärer Nähe, oder man muß sie sich suchen, und das kann erstaunlich schwierig sein, genau wie das Finden von Bandnamen oder Filmtiteln. In Österreich gibt es einen Filmemacher namens Paul Poet, von dem ich nicht weiß, ob er wirklich so heißt, aber er hat vor ein paar Tagen auf Facebook gepostet: “Die allerdümmsten Festivalablehnungen auf meinen neuen Kinofilm DER SOLDAT MONIKA”, und dann folgen zwei Zitate von der Berlinale sowie eins von einem anderen Festival. Ich finde den Namen “Paul Poet” herausragend, den würde ich sofort nehmen, wenn er nicht schon vergeben wäre, und ich finde auch diese Aktion herausragend, vollkommen egal, ob der fragliche Film gut oder schlecht ist und ob die Urteile der Festivals zutreffend oder völlig daneben waren. Und zwar aus folgendem Grund, auch wenn ich mich da zum hundertsten Mal wiederhole: Ich halte die asymmetrisch verteilte Macht zwischen einerseits den Filmemachern und Macherinnen, die sich zumeist freischaffend durch ein prekäres Berufsleben schleppen und regelmäßig all ihre finanzielle und sonstige Energie in Filmprojekte hineinpulvern, und andererseits den Torwächtern des Förder- und Sender- und Festivalbetriebs, die auf okay bis gut bezahlten Stellen sitzen, null persönliches Risiko eingehen und nie für irgendetwas geradestehen müssen, für unerträglich. Das war ein langer Satz, aber man kann ihn im Zweifelsfall nochmal lesen, wenn man Fragen hat. Nun ist das Leben zwar voller Machtverhältnisse, da läßt sich nicht viel dran ändern, und außerdem sucht jeder sich seinen Beruf selber aus, aber was hier erschwerend hinzukommt, ist ein Auseinanderklaffen der realen Verhältnisse und der rhetorischen Begleitmusik. Den Filmemachern wird der symbolische und reale Teppich ausgerollt, man hebt sie auf ein Podest, sie stehen zumindest symbolisch Seite an Seite mit Säulenheiligen wie Werner Stipetič/Herzog, aber die realen Verhältnisse sind eher so, dass man bei den hohen Herrschaften bitten und betteln muß, damit sie das Drehbuch bzw. den Film nach monatelanger Wartezeit huldvoll in Augenschein nehmen, und dann hört man nie wieder etwas oder kriegt irgendwann eine dürre Standardabsage von der Praktikantin der Assistentin. Die einzige Strategie der Gegenwehr scheint mir daher, diese realen Machtverhältnisse zumindest sichtbar zu machen. Das tut der wunderbare (siehe gestern) Paul Poet, und das tue ich bekanntlich auch gern. Man sollte es allerdings nur für sich selber tun, deswegen verschweige ich den Namen der befreundeten Filmemacherin, die mir beim kleingeschriebenen arte-Empfang begegnet, die seit Jahren mit ihren Filmen internationale Preise noch und nöcher einsackt und die mir erzählt, dass ihr neues Drehbuch jetzt ein knappes Jahr bei arte (kleingeschrieben) lag, bevor es abgelehnt wurde. Und sie sagt mir dasselbe, was ich soeben schon schrieb: Die Leute, die hier entscheiden, haben keinen Aktien im Spiel, kein “Skin in the game”, die nehmen am Ende des Monats ihr Gehalt nach Hause, egal was passiert, und eigentlich findet sie das System in USA zumindest in diesem Punkt besser. Ihr Name bleibt mein Geheimnis, meinen eigenen Namen hingegen verrate ich, er lautet bekanntlich Dietrich Uber Eats Audi Kentucky Fried Chicken, alles großgeschrieben, und ich erzähle immer wieder gern die Geschichte, wie ich Carlo Louis Vuitton Chatrian mal auf einen Kaffee traf, einfach so als Experiment, denn es wurde immer erzählt, Cannes-Chef Thierry Veuve Clicquot Fremaux halte ständigen Kontakt zur Filmszene seines Landes, der kenne alle und würde Filme schon im Schneideraum gucken, was man nun von Dieter Volkswagen Ergo Kosslick nicht behaupten konnte, dem hatte ich genau einmal auf dem roten Teppich die Hand geschüttelt und dann vermutlich nochmal nach der Preisverleihung, bei der ich aber Fieber hatte und im Koma durch den Saal schwebte. Also dachte ich mir: Schauen wir doch mal, vielleicht interessiert der neue Mann hier sich ja für Kontakt zur deutschen Filmszene, als deren Teil ich mich damals verstand. Nach etwas zäher Terminfindung gelang uns dann ein ca 40minütiges Treffen auf einen Morgenkaffee, die Konversation war das Gegenteil von angeregt, der Mann erschien mir wie eine komplett humorlose Schlaftablette, ich ihm aber möglicherweise auch, und so war es nur konsequent, dass er dann als erste Amtshandlung im Sommer 2019 meinen Film “Nö” für alle Sektionen der Berlinale 2020 ablehnte.
Wer solche Ablehnungen öffentlich macht, erscheint leicht als beleidigte Leberwurst, auch Paul Poet setzt sich dieser Gefahr aus, aber erstens ist das egal und zweitens finde ich, man kommt hier weiter, wenn man nicht mit dem oberen Ende der Qualitätsskala argumentiert, sondern vom unteren. Also: Ich habe auf der Berlinale schon so viele mißratene Filme gesehen, da wäre meiner auch nicht negativ aufgefallen.
Wenn man mit Festivalleuten über solche Dinge redet, dann kommt so sicher wie das Amen in der Kirche der Einwand: Tja, vielleicht hat dein Film ja einfach nicht reingepasst! Das kannst du doch gar nicht wissen! Das Programm muss ja auch in sich stimmen! Die verwenden da echt viel Aufmerksamkeit darauf! So ein Festivalprogramm ist ein richtiges Kunstwerk! Da hast du doch keine Ahnung! Darauf kann ich stets nur erwidern: Wenn das jetzt wirklich die Erklärung für die vielen schlimmen Filme auf Festivals ist, also wenn es zwar bessere gäbe, man diese aber nicht zeigen kann, weil sie nicht ins Programm passen, dann ist das ganze System möglicherweise eine Fehlkonstruktion. Zumindest wäre ich dann lieber auf einem Festival, das nicht so viel kuratorische Eitelkeit vor sich herträgt, sondern einfach die besten Filme zeigt. Wenn man das macht, dann müßte das Programm schon ganz von selber stimmig werden.
Carlo Chatrian (übrigens auch ein klangvoller Name, mit dem man sensibel-nachdenklich-heitere italienische Arthousefilme machen könnte, ungefähr so wie Nanni Moretti) wird mir jedenfalls seit mindestens einem Jahr penetrant von Facebook als Freund vorgeschlagen. Ich weiß immer gar nicht, was ich da machen soll. Ich glaube, Facebook will mich ärgern oder “trollen”, wie man heute sagt. Nach dieser Chatrian-Erfahrung habe ich jetzt jedenfalls keinerlei Anstalten gemacht, Chatrians Nachfolgerin Tricia Tuttle kennenzulernen, im Gegenteil, geriete ich in ihre Nähe, dann würde ich mich tendenziell eher irgendwo verstecken, denn Festivalleute machen ja gern Entdeckungen, hört man immer wieder. Es ist andererseits etwas schwierig, Leute zu entdecken, deren Namen schon jeder kennt. Kürzlich sprach ich mit einem Radiojournalisten, und der erzählte, er habe als letztes eine Beitrag gemacht über Filmemacher*innen um die 50, die keine Jobs mehr kriegen und sich daher Nebenjobs suchen. Vielleicht wollte der mich auch trollen. Ich sehe das ganz pragmatisch: Wir bedienen einen Markt, dort sind bestimmte Produkte gefragt, andere weniger, und wenn “aufsehenerregende neue Regie-Namen” eine gefragte Produktgattung ist, dann muß man die halt liefern. Der Kollege Achim Bornhak hat ja auch vor einigen Jahren einen Karriere-Relaunch hingelegt und heißt jetzt “Akiz”. Vielleicht sollte ich mich also doch “Dietrich Herzog” nennen oder gar, wie oben schon mal erwähnt, “Emma Dilemma”, denn Frauen sind auch sehr gefragt. Ein sehr gut mit mir befreundeter Filmemacher aus einem osteuropäischen Land bekam nahegelegt, seine Kamerafrau (und Ehefrau) als Co-Regisseurin zu nennen, weil das die Chancen bei Festivals steigern würde. So etwas fände ich problematisch, da es einer Lüge gleichkäme. Mich selbst zur Frau zu erklären wäre hingegen keine Lüge, sondern Ausdruck einer höheren, poetischen Wahrheit, denn Imaginationskraft, fluide Identität und Freude an spielerischen Verwandlungen sind Teil des Jobs, wir Gaukler und Bänkelsänger haben doch alle eine ganze Welt in uns drin (so etwas ähnliches sagt auch Ethan Hawke in seiner Rolle als Songschreiber Lorenz Hart in Richard Linklaters Wettbewerbsbeitrag “Blue Moon”), und wenn das weiterhin so gefragt bleiben sollte, kann ich es gern liefern. Sollte also in den nächsten Jahren eine Transfrau namens “Emma Dilemma” oder “Herzog Dietlinde” einen kometenhaften Aufstieg im Kinouniversum hinlegen, dann wissen die zwei oder drei Leser dieses Blogs jetzt schon, wer dahintersteckt.
Auf dem kleingeschriebenen arte-Empfang treffe ich auch eine Arte-Pressefrau, die sagt: Wir hatten lange keinen Film mehr von dir! Wird mal wieder Zeit! Stimmt, erwidere ich, und es ist ja nicht so, dass ich nichts schreiben würde, es versandet immer nur irgendwie. Dann erwähne ich ein paar Sachen, die ich vorhabe, aber die findet sie dann alle nicht gut. Horror? Nee. Musical? Oh Gott, wollen doch jetzt alle. Ich nehme das trotzdem als ermutigendes Zeichen. Und dann treffe ich noch eine Produzentin, die im Gespräch erwähnt, sie wolle dann auch noch zu der Redakteurin, die wenige Meter von uns entfernt steht, und ein Projekt pitchen. Das erscheint mir als ein gewagtes Unterfangen. Ich meine mich zu erinnern, dass der eine oder andere arte-Redakteure in den letzten Jahren der eigenen Veranstaltung einfach fernblieb, weil er da immer von einer Menschentraube von pitchenden Produzierenden und ideenhabenden Filmemachenwollenden umlagert war. Andererseits: Grandiose Idee. Könnte man einfach mal machen. Also gehe ich direkt zur Redakteurin und überschütte sie mit Filmideen, und was dann passiert, ist kaum zu glauben: Sie ist von allen begeistert. Also wirklich von jeder einzelnen. Reich gesegnet ziehe ich von dannen und lasse mich in diesem Hochgefühl beim Rausgehen noch vom einzig verbliebenen Fotografen am sogenannten “Teppich” fotografieren. Beim Reingehen habe ich es unterlassen, jetzt bin ich von Glückshormonen durchflutet und will die Welt an diesem Rausch teilhaben lassen. “Teppich machen” heißt dieser Vorgang, und vor einigen Tagen habe ich noch behauptet, ich sei da indifferent, aber bei eingehenderer Gewissenserforschung muß ich feststellen: Stimmt gar nicht. Ich finde es eigentlich ziemlich bekloppt. Es sei denn, ich bin gerade mal wieder supererfolgreich, König der Welt, alle liegen mir zu Füßen, ich habe einen adipös hochbudgetierten Kinofilm erfolgreich durch den Förderungs-Redaktions-Festival-Todesstern manövriert, sitze auf 15 Millionen und sage bei der Berlinale-Pressekonferenz, wie toll ich das finde. Dann mache ich gern Teppich.
Tricia Tuttle erscheint mir übrigens nicht halb so schlaftablettig wie ihr Vorgänger, sondern äußerst aufgeweckt. Außerdem hat sie es geschafft, eine Eröffnungsveranstaltung komplett ohne Politiker*innengrußworte zu schmeißen, sie hat mir 15 Minuten Claudia Roth erspart, und dafür bin ich ihr ewig dankbar. Wäre ich anderer Meinung, dann würde ich das hier nicht hinschreiben, denn ich will ja was von ihr. Und das ist eigentlich das zentrale Problem der ganzen Leute in diesen Machtpositionen: Niemand ist ehrlich zu ihnen. Es gibt kaum eine traurigere Figur als Fernsehredakteure im Ruhestand, deren Macht schlagartig von ihnen abgefallen ist, denen niemand mehr hinterherläuft und die schmerzhaft klar wird, dass sich nie jemand für sie interessiert hat, sondern alle immer nur ihr Geld wollten. Was ja eigentlich ohnehin immer klar war. Nur ihnen selber nicht. Der einzige Weg aus diesem Dilemma ist, wenn ich mich nicht irre, ehrlicher Enthusiasmus. “Bock ist die härteste Währung”, sagte ein Labelbetreiber mal zu mir, und dieser Satz hallt seitdem in vielerlei Gestalt durch mein Leben. Es gibt unter Redakteurinnen, Festivalmachern und vielleicht auch unter Förderern Leute, die ehrlich begeistert sind von dem, was sie da tun. Mit denen kann man Nächte durchtanzen und Tage durchdiskutieren. Man erkennt sie. Man erkennt sich untereinander. Man braucht ein paar solcher Leute um sich herum, und dann ist es egal, wieviele Schlaftabletten und Leberwürste ansonsten um einen herum Phrasen dreschen und Teppich machen.